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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Kunst auf eine gewisse Weise gestaltet, dann muß sich an der
Form sicher unterscheiden lassen, ob ein Werk so wolle behandelt
sein oder nicht. Aber wo ist dieß jemals so vollkommen bestimmt
gewesen? Denkt man es aber auch aufs vollkommenste, im zu-
sammenhängenden Leben werden die Fälle nicht ausbleiben, wo
die eigentliche Kunstform zu besonderen Zwecken gemißbraucht ist.
Doch läßt sich das leicht erkennen. Der Künstler hat vielleicht
seinen eigentlichen Zweck verborgen, aber das Kunstwerk wird
Einzelheiten enthalten und zwar nicht zerstreuet und nicht Neben-
sachen, die ein Ganzes bilden und die wahre Tendenz ausmachen.
Allein hier kommen wir auf ein großes Gebiet, welches in dieser
Beziehung im gewissen Sinne zweideutig ist. Nemlich überall,
auf allen Gebieten auch außer dem eigentlichen Kunstgebiet findet
sich eine gewisse Tendenz zur Kunst, wodurch die Frage zweideu-
tig wird und die Antwort schwierig. So hat die Geschichtschrei-
bung einen rein wissenschaftlichen Ursprung, aber eine große An-
näherung an das Kunstgebiet. Niemand aber erzählt Begeben-
heiten ohne seine Art und Weise die Sache anzusehen und zu
beurtheilen. Dieß ist nicht sein Zweck, sondern das Unvermeid-
liche; in dem Grade aber, in welchem es das ist, ist es bewußt-
los und in sofern ohne Einfluß auf die Composition. Ganz an-
ders, wenn Jemand die Geschichtschreibung als Mittel gebraucht,
um gewisse Principien und Maximen zu empfehlen oder zurück-
zuhalten. Das ist ein bestimmter Zweck, der nicht in dem natür-
lichen Verhältniß von Stoff und Form liegt. Je mehr aber ein
besonderer Zweck der Darstellung so obwaltet, daß er sich verbergen
muß, um so mehr ist die Form für sich als Kunstgebiet zu be-
trachten. So giebt es also nicht bloß einen Gegensaz zwischen
Praxis und Kunst, sondern auch zwischen Wissenschaft und Kunst.
Die wissenschaftliche Darstellung hat auch ihren Zweck in sich sel-
ber, aber er ist ein anderer, als die Selbstmanifestation in der
Kunst, nemlich die Mittheilung von etwas Objectivem, von Erkennt-
niß. In dem Grade in welchem sich die wissenschaftliche Dar-
stellung der Kunstform nähert, entsteht auch eine andere Compo-

Kunſt auf eine gewiſſe Weiſe geſtaltet, dann muß ſich an der
Form ſicher unterſcheiden laſſen, ob ein Werk ſo wolle behandelt
ſein oder nicht. Aber wo iſt dieß jemals ſo vollkommen beſtimmt
geweſen? Denkt man es aber auch aufs vollkommenſte, im zu-
ſammenhaͤngenden Leben werden die Faͤlle nicht ausbleiben, wo
die eigentliche Kunſtform zu beſonderen Zwecken gemißbraucht iſt.
Doch laͤßt ſich das leicht erkennen. Der Kuͤnſtler hat vielleicht
ſeinen eigentlichen Zweck verborgen, aber das Kunſtwerk wird
Einzelheiten enthalten und zwar nicht zerſtreuet und nicht Neben-
ſachen, die ein Ganzes bilden und die wahre Tendenz ausmachen.
Allein hier kommen wir auf ein großes Gebiet, welches in dieſer
Beziehung im gewiſſen Sinne zweideutig iſt. Nemlich uͤberall,
auf allen Gebieten auch außer dem eigentlichen Kunſtgebiet findet
ſich eine gewiſſe Tendenz zur Kunſt, wodurch die Frage zweideu-
tig wird und die Antwort ſchwierig. So hat die Geſchichtſchrei-
bung einen rein wiſſenſchaftlichen Urſprung, aber eine große An-
naͤherung an das Kunſtgebiet. Niemand aber erzaͤhlt Begeben-
heiten ohne ſeine Art und Weiſe die Sache anzuſehen und zu
beurtheilen. Dieß iſt nicht ſein Zweck, ſondern das Unvermeid-
liche; in dem Grade aber, in welchem es das iſt, iſt es bewußt-
los und in ſofern ohne Einfluß auf die Compoſition. Ganz an-
ders, wenn Jemand die Geſchichtſchreibung als Mittel gebraucht,
um gewiſſe Principien und Maximen zu empfehlen oder zuruͤck-
zuhalten. Das iſt ein beſtimmter Zweck, der nicht in dem natuͤr-
lichen Verhaͤltniß von Stoff und Form liegt. Je mehr aber ein
beſonderer Zweck der Darſtellung ſo obwaltet, daß er ſich verbergen
muß, um ſo mehr iſt die Form fuͤr ſich als Kunſtgebiet zu be-
trachten. So giebt es alſo nicht bloß einen Gegenſaz zwiſchen
Praxis und Kunſt, ſondern auch zwiſchen Wiſſenſchaft und Kunſt.
Die wiſſenſchaftliche Darſtellung hat auch ihren Zweck in ſich ſel-
ber, aber er iſt ein anderer, als die Selbſtmanifeſtation in der
Kunſt, nemlich die Mittheilung von etwas Objectivem, von Erkennt-
niß. In dem Grade in welchem ſich die wiſſenſchaftliche Dar-
ſtellung der Kunſtform naͤhert, entſteht auch eine andere Compo-

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[164/0188] Kunſt auf eine gewiſſe Weiſe geſtaltet, dann muß ſich an der Form ſicher unterſcheiden laſſen, ob ein Werk ſo wolle behandelt ſein oder nicht. Aber wo iſt dieß jemals ſo vollkommen beſtimmt geweſen? Denkt man es aber auch aufs vollkommenſte, im zu- ſammenhaͤngenden Leben werden die Faͤlle nicht ausbleiben, wo die eigentliche Kunſtform zu beſonderen Zwecken gemißbraucht iſt. Doch laͤßt ſich das leicht erkennen. Der Kuͤnſtler hat vielleicht ſeinen eigentlichen Zweck verborgen, aber das Kunſtwerk wird Einzelheiten enthalten und zwar nicht zerſtreuet und nicht Neben- ſachen, die ein Ganzes bilden und die wahre Tendenz ausmachen. Allein hier kommen wir auf ein großes Gebiet, welches in dieſer Beziehung im gewiſſen Sinne zweideutig iſt. Nemlich uͤberall, auf allen Gebieten auch außer dem eigentlichen Kunſtgebiet findet ſich eine gewiſſe Tendenz zur Kunſt, wodurch die Frage zweideu- tig wird und die Antwort ſchwierig. So hat die Geſchichtſchrei- bung einen rein wiſſenſchaftlichen Urſprung, aber eine große An- naͤherung an das Kunſtgebiet. Niemand aber erzaͤhlt Begeben- heiten ohne ſeine Art und Weiſe die Sache anzuſehen und zu beurtheilen. Dieß iſt nicht ſein Zweck, ſondern das Unvermeid- liche; in dem Grade aber, in welchem es das iſt, iſt es bewußt- los und in ſofern ohne Einfluß auf die Compoſition. Ganz an- ders, wenn Jemand die Geſchichtſchreibung als Mittel gebraucht, um gewiſſe Principien und Maximen zu empfehlen oder zuruͤck- zuhalten. Das iſt ein beſtimmter Zweck, der nicht in dem natuͤr- lichen Verhaͤltniß von Stoff und Form liegt. Je mehr aber ein beſonderer Zweck der Darſtellung ſo obwaltet, daß er ſich verbergen muß, um ſo mehr iſt die Form fuͤr ſich als Kunſtgebiet zu be- trachten. So giebt es alſo nicht bloß einen Gegenſaz zwiſchen Praxis und Kunſt, ſondern auch zwiſchen Wiſſenſchaft und Kunſt. Die wiſſenſchaftliche Darſtellung hat auch ihren Zweck in ſich ſel- ber, aber er iſt ein anderer, als die Selbſtmanifeſtation in der Kunſt, nemlich die Mittheilung von etwas Objectivem, von Erkennt- niß. In dem Grade in welchem ſich die wiſſenſchaftliche Dar- ſtellung der Kunſtform naͤhert, entſteht auch eine andere Compo-

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/188>, abgerufen am 19.04.2024.