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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Die 1) Aufgabe der psychologischen Auslegung für sich betrach-
tet ist im Allgemeinen die, jeden gegebenen Gedankencomplexus
als Lebensmoment eines bestimmten Menschen aufzufassen. Was
haben wir für Mittel, diese Aufgabe zu lösen?

Wir müssen auf das Verhältniß eines Sprechenden und Hö-
renden zurückgehen. Ist Denken und Gedankenverbindung in bei-
den ein und dasselbe, so ergiebt sich bei Gleichheit der Sprache
das Verstehen von selbst. Wenn aber das Denken in beiden
wesentlich verschieden ist, ergiebt es sich nicht von selbst auch bei
Gleichheit der Sprache. Nehmen wir beide Fälle absolut, so
verschwindet die Aufgabe, denn im ersteren Falle entsteht sie gar
nicht, weil sie mit der Auflösung rein zusammenfällt, im zweiten
Falle ist sie, wie es scheint, unauflösbar. Allein in dieser Schärfe
oder Absolutheit ist der Gegensaz gar nicht vorhanden. Denn
in jedem Falle ist immer eine gewisse Differenz des Denkens vor-
handen zwischen dem Sprechenden und Hörenden, aber keine un-
auflösliche. Selbst im gewöhnlichen Leben, wenn ich bei voll-
kommener Gleichheit und Durchsichtigkeit der Sprache die Rede
eines anderen höre und mir die Aufgabe stelle, sie zu verstehen,
seze ich eine Differenz zwischen ihm und mir. Aber in jedem Ver-
stehenwollen eines andern liegt schon die Voraussezung, daß die
Differenz auflösbar ist. Die Aufgabe ist, in die Beschaffenheit
und Gründe der Differenzen zwischen dem Redenden und Ver-
stehenden genauer einzugehen. Dieß ist schwierig.

Zuvor aber müssen wir noch auf eine andere Differenz auf-
merksam machen, nemlich auf den Unterschied zwischen dem un-
bestimmten, fließenden Gedankengange und dem abgeschlossenen
Gedankencomplexus. Dort ist wie im Flusse ein Unendliches, ein
unbestimmtes Übergehen von einem Gedanken zum andern, ohne
nothwendige Verbindung. Hier, in der geschlossenen Rede, ist
ein bestimmter Zweck, auf den sich alles bezieht, ein Gedanke
bestimmt den andern mit Nothwendigkeit, und ist das Ziel erreicht,

1) Aus der Vorlesung v. J. 1832.

Die 1) Aufgabe der pſychologiſchen Auslegung fuͤr ſich betrach-
tet iſt im Allgemeinen die, jeden gegebenen Gedankencomplexus
als Lebensmoment eines beſtimmten Menſchen aufzufaſſen. Was
haben wir fuͤr Mittel, dieſe Aufgabe zu loͤſen?

Wir muͤſſen auf das Verhaͤltniß eines Sprechenden und Hoͤ-
renden zuruͤckgehen. Iſt Denken und Gedankenverbindung in bei-
den ein und daſſelbe, ſo ergiebt ſich bei Gleichheit der Sprache
das Verſtehen von ſelbſt. Wenn aber das Denken in beiden
weſentlich verſchieden iſt, ergiebt es ſich nicht von ſelbſt auch bei
Gleichheit der Sprache. Nehmen wir beide Faͤlle abſolut, ſo
verſchwindet die Aufgabe, denn im erſteren Falle entſteht ſie gar
nicht, weil ſie mit der Aufloͤſung rein zuſammenfaͤllt, im zweiten
Falle iſt ſie, wie es ſcheint, unaufloͤsbar. Allein in dieſer Schaͤrfe
oder Abſolutheit iſt der Gegenſaz gar nicht vorhanden. Denn
in jedem Falle iſt immer eine gewiſſe Differenz des Denkens vor-
handen zwiſchen dem Sprechenden und Hoͤrenden, aber keine un-
aufloͤsliche. Selbſt im gewoͤhnlichen Leben, wenn ich bei voll-
kommener Gleichheit und Durchſichtigkeit der Sprache die Rede
eines anderen hoͤre und mir die Aufgabe ſtelle, ſie zu verſtehen,
ſeze ich eine Differenz zwiſchen ihm und mir. Aber in jedem Ver-
ſtehenwollen eines andern liegt ſchon die Vorausſezung, daß die
Differenz aufloͤsbar iſt. Die Aufgabe iſt, in die Beſchaffenheit
und Gruͤnde der Differenzen zwiſchen dem Redenden und Ver-
ſtehenden genauer einzugehen. Dieß iſt ſchwierig.

Zuvor aber muͤſſen wir noch auf eine andere Differenz auf-
merkſam machen, nemlich auf den Unterſchied zwiſchen dem un-
beſtimmten, fließenden Gedankengange und dem abgeſchloſſenen
Gedankencomplexus. Dort iſt wie im Fluſſe ein Unendliches, ein
unbeſtimmtes Übergehen von einem Gedanken zum andern, ohne
nothwendige Verbindung. Hier, in der geſchloſſenen Rede, iſt
ein beſtimmter Zweck, auf den ſich alles bezieht, ein Gedanke
beſtimmt den andern mit Nothwendigkeit, und iſt das Ziel erreicht,

1) Aus der Vorleſung v. J. 1832.
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[148/0172] Die 1) Aufgabe der pſychologiſchen Auslegung fuͤr ſich betrach- tet iſt im Allgemeinen die, jeden gegebenen Gedankencomplexus als Lebensmoment eines beſtimmten Menſchen aufzufaſſen. Was haben wir fuͤr Mittel, dieſe Aufgabe zu loͤſen? Wir muͤſſen auf das Verhaͤltniß eines Sprechenden und Hoͤ- renden zuruͤckgehen. Iſt Denken und Gedankenverbindung in bei- den ein und daſſelbe, ſo ergiebt ſich bei Gleichheit der Sprache das Verſtehen von ſelbſt. Wenn aber das Denken in beiden weſentlich verſchieden iſt, ergiebt es ſich nicht von ſelbſt auch bei Gleichheit der Sprache. Nehmen wir beide Faͤlle abſolut, ſo verſchwindet die Aufgabe, denn im erſteren Falle entſteht ſie gar nicht, weil ſie mit der Aufloͤſung rein zuſammenfaͤllt, im zweiten Falle iſt ſie, wie es ſcheint, unaufloͤsbar. Allein in dieſer Schaͤrfe oder Abſolutheit iſt der Gegenſaz gar nicht vorhanden. Denn in jedem Falle iſt immer eine gewiſſe Differenz des Denkens vor- handen zwiſchen dem Sprechenden und Hoͤrenden, aber keine un- aufloͤsliche. Selbſt im gewoͤhnlichen Leben, wenn ich bei voll- kommener Gleichheit und Durchſichtigkeit der Sprache die Rede eines anderen hoͤre und mir die Aufgabe ſtelle, ſie zu verſtehen, ſeze ich eine Differenz zwiſchen ihm und mir. Aber in jedem Ver- ſtehenwollen eines andern liegt ſchon die Vorausſezung, daß die Differenz aufloͤsbar iſt. Die Aufgabe iſt, in die Beſchaffenheit und Gruͤnde der Differenzen zwiſchen dem Redenden und Ver- ſtehenden genauer einzugehen. Dieß iſt ſchwierig. Zuvor aber muͤſſen wir noch auf eine andere Differenz auf- merkſam machen, nemlich auf den Unterſchied zwiſchen dem un- beſtimmten, fließenden Gedankengange und dem abgeſchloſſenen Gedankencomplexus. Dort iſt wie im Fluſſe ein Unendliches, ein unbeſtimmtes Übergehen von einem Gedanken zum andern, ohne nothwendige Verbindung. Hier, in der geſchloſſenen Rede, iſt ein beſtimmter Zweck, auf den ſich alles bezieht, ein Gedanke beſtimmt den andern mit Nothwendigkeit, und iſt das Ziel erreicht, 1) Aus der Vorleſung v. J. 1832.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/172>, abgerufen am 19.04.2024.