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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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um alle nöthigen Analogien zu finden; die andern bilden ein Gan-
zes ohne besondere hermeneutische Wichtigkeit in ihrer Differenz.
Und ihr Sprachgebrauch stand unter dem Einflusse des Paulus,
weil dieser zuerst hellenische Gemeinden bildete, also auch zuerst
den griechischen Sprachgebrauch in der Lehre fixirte. Er hielt dabei
die Verbindung mit der Muttergemeinde in Jerusalem so fest, daß
den andern Aposteln dadurch möglich wurde, seine Weise anzunehmen.

Größere Schwierigkeit machen die historischen Schriftsteller
wegen der Streitigkeit und Unsicherheit ihrer Entstehungsweise und
ihrer Einheit. Das Verstehen des quantitativen ist nur sicher,
wenn die kritische Aufgabe zuvor gelöst ist. Allein die Auslegung
soll gerade darüber mit entscheiden, was der Kritik nach unsicher
und streitig ist, da die äußeren Zeugnisse fehlen. Hierauf muß
das hermeneutische Verfahren Rücksicht nehmen, und deßhalb in
der Bestimmung der Resultate sehr vorsichtig sein. Die Ausle-
gung hat dabei auf zweierlei zu sehen, erstlich auf das Ver-
hältniß der einzelnen Erzählungen, sodann auf das Verhältniß
der einzelnen didaktischen Elemente. Was das leztere betrifft,
nemlich die Reden, so bemerkt man, daß sie den bestimmten Ver-
hältnissen nicht entsprechen, sofern sie entweder zu kurz sind, oder
in längeren oder zu langen das Einzelne darin oft nicht genug
zusammenhängt, um eine Einheit zu bilden. Entweder nun ist
eine solche Rede nur Auszug aus der wirklich gehaltenen, aber
doch ein Ganzes, oder kein Ganzes, sondern von dem Referenten
aus verschiedenen zusammengetragen. Hierauf hat die Auslegung
zu achten und bei jeder Verknüpfung hermeneutisch zu untersuchen,
ob sie ursprünglich sei, oder willkührlich Saz an Saz, Reihe an
Reihe geknüpft. Hier kommt alles auf genaue Beobachtung der
verknüpfenden Elemente an. -- Was das Verhältniß der histo-
rischen Elemente betrifft, so ist offenbar, daß wir nur Einzelnes
haben, kein continuirliches Ganzes, weil sonst das ganze Leben
Christi sehr zusammenschrumpfen würde. Es ist nun zu unter-
scheiden, ob ein genauer Zusammenhang ist zwischen dem Einzel-
nen oder nicht, und zu untersuchen, ob die Zusammenhangs-

um alle noͤthigen Analogien zu finden; die andern bilden ein Gan-
zes ohne beſondere hermeneutiſche Wichtigkeit in ihrer Differenz.
Und ihr Sprachgebrauch ſtand unter dem Einfluſſe des Paulus,
weil dieſer zuerſt helleniſche Gemeinden bildete, alſo auch zuerſt
den griechiſchen Sprachgebrauch in der Lehre fixirte. Er hielt dabei
die Verbindung mit der Muttergemeinde in Jeruſalem ſo feſt, daß
den andern Apoſteln dadurch moͤglich wurde, ſeine Weiſe anzunehmen.

Groͤßere Schwierigkeit machen die hiſtoriſchen Schriftſteller
wegen der Streitigkeit und Unſicherheit ihrer Entſtehungsweiſe und
ihrer Einheit. Das Verſtehen des quantitativen iſt nur ſicher,
wenn die kritiſche Aufgabe zuvor geloͤſt iſt. Allein die Auslegung
ſoll gerade daruͤber mit entſcheiden, was der Kritik nach unſicher
und ſtreitig iſt, da die aͤußeren Zeugniſſe fehlen. Hierauf muß
das hermeneutiſche Verfahren Ruͤckſicht nehmen, und deßhalb in
der Beſtimmung der Reſultate ſehr vorſichtig ſein. Die Ausle-
gung hat dabei auf zweierlei zu ſehen, erſtlich auf das Ver-
haͤltniß der einzelnen Erzaͤhlungen, ſodann auf das Verhaͤltniß
der einzelnen didaktiſchen Elemente. Was das leztere betrifft,
nemlich die Reden, ſo bemerkt man, daß ſie den beſtimmten Ver-
haͤltniſſen nicht entſprechen, ſofern ſie entweder zu kurz ſind, oder
in laͤngeren oder zu langen das Einzelne darin oft nicht genug
zuſammenhaͤngt, um eine Einheit zu bilden. Entweder nun iſt
eine ſolche Rede nur Auszug aus der wirklich gehaltenen, aber
doch ein Ganzes, oder kein Ganzes, ſondern von dem Referenten
aus verſchiedenen zuſammengetragen. Hierauf hat die Auslegung
zu achten und bei jeder Verknuͤpfung hermeneutiſch zu unterſuchen,
ob ſie urſpruͤnglich ſei, oder willkuͤhrlich Saz an Saz, Reihe an
Reihe geknuͤpft. Hier kommt alles auf genaue Beobachtung der
verknuͤpfenden Elemente an. — Was das Verhaͤltniß der hiſto-
riſchen Elemente betrifft, ſo iſt offenbar, daß wir nur Einzelnes
haben, kein continuirliches Ganzes, weil ſonſt das ganze Leben
Chriſti ſehr zuſammenſchrumpfen wuͤrde. Es iſt nun zu unter-
ſcheiden, ob ein genauer Zuſammenhang iſt zwiſchen dem Einzel-
nen oder nicht, und zu unterſuchen, ob die Zuſammenhangs-

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[140/0164] um alle noͤthigen Analogien zu finden; die andern bilden ein Gan- zes ohne beſondere hermeneutiſche Wichtigkeit in ihrer Differenz. Und ihr Sprachgebrauch ſtand unter dem Einfluſſe des Paulus, weil dieſer zuerſt helleniſche Gemeinden bildete, alſo auch zuerſt den griechiſchen Sprachgebrauch in der Lehre fixirte. Er hielt dabei die Verbindung mit der Muttergemeinde in Jeruſalem ſo feſt, daß den andern Apoſteln dadurch moͤglich wurde, ſeine Weiſe anzunehmen. Groͤßere Schwierigkeit machen die hiſtoriſchen Schriftſteller wegen der Streitigkeit und Unſicherheit ihrer Entſtehungsweiſe und ihrer Einheit. Das Verſtehen des quantitativen iſt nur ſicher, wenn die kritiſche Aufgabe zuvor geloͤſt iſt. Allein die Auslegung ſoll gerade daruͤber mit entſcheiden, was der Kritik nach unſicher und ſtreitig iſt, da die aͤußeren Zeugniſſe fehlen. Hierauf muß das hermeneutiſche Verfahren Ruͤckſicht nehmen, und deßhalb in der Beſtimmung der Reſultate ſehr vorſichtig ſein. Die Ausle- gung hat dabei auf zweierlei zu ſehen, erſtlich auf das Ver- haͤltniß der einzelnen Erzaͤhlungen, ſodann auf das Verhaͤltniß der einzelnen didaktiſchen Elemente. Was das leztere betrifft, nemlich die Reden, ſo bemerkt man, daß ſie den beſtimmten Ver- haͤltniſſen nicht entſprechen, ſofern ſie entweder zu kurz ſind, oder in laͤngeren oder zu langen das Einzelne darin oft nicht genug zuſammenhaͤngt, um eine Einheit zu bilden. Entweder nun iſt eine ſolche Rede nur Auszug aus der wirklich gehaltenen, aber doch ein Ganzes, oder kein Ganzes, ſondern von dem Referenten aus verſchiedenen zuſammengetragen. Hierauf hat die Auslegung zu achten und bei jeder Verknuͤpfung hermeneutiſch zu unterſuchen, ob ſie urſpruͤnglich ſei, oder willkuͤhrlich Saz an Saz, Reihe an Reihe geknuͤpft. Hier kommt alles auf genaue Beobachtung der verknuͤpfenden Elemente an. — Was das Verhaͤltniß der hiſto- riſchen Elemente betrifft, ſo iſt offenbar, daß wir nur Einzelnes haben, kein continuirliches Ganzes, weil ſonſt das ganze Leben Chriſti ſehr zuſammenſchrumpfen wuͤrde. Es iſt nun zu unter- ſcheiden, ob ein genauer Zuſammenhang iſt zwiſchen dem Einzel- nen oder nicht, und zu unterſuchen, ob die Zuſammenhangs-

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/164>, abgerufen am 23.04.2024.