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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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gegengesezter Einseitigkeiten und taugen in sofern beide nicht.
Es genügt auf die Paulinischen Briefe zu verweisen, worin oft
rhetorische Stellen, besonders Schlußstellen von Abschnitten vor-
kommen, in denen eine gewisse Sprachfülle vorherrscht, und man-
che Wörter fast tautologisch sind. Hier ist also das Gegentheil des
Emphatischen. Aber wir finden auch bei Paulus oxumora, und
was damit verwandt ist, ein gewisses Spiel mit den Bedeutun-
gen desselben Ausdrucks. Solche Stellen haben auch einen be-
stimmten rhythmischen Charakter, aber das ist untergeordnet, und
so entsteht die Aufforderung, die Ausdrücke genau zu nehmen.
Wendet man den Kanon jener Stellen auf diese an, oder umge-
kehrt, so verfehlt man den Sinn des Schriftstellers. Sieht man
nun im Gegentheil von dieser Art von Stellen, wo die Gedan-
ken nicht in fortschreitender Entwickelung sind, -- denn auch die
oxumora sind nur Ruhepunkte inmitten der Rede, -- auf solche,
wo eine bestimmte Gedankenentwickelung fortschreitet, so finden
wir auch hier einen entgegengesezten Charakter. Nemlich im He-
bräischen finden wir an der Stelle des Periodischen, so wie des
Unterschiedes zwischen Prosa und Poesie, einen bestimmten Typus,
oder Parallelismus, worin ein gewisses Wiegen des Gedankens
liegt, so daß in einer gewissen Arsis und Thesis derselbe Gedanke
mit geringer Modification ausgedrückt wird. Die dialektische Dif-
ferenz verschwindet, die Säze haben ein verschiedenes Colorit, aber
keinesweges den Charakter dialektischer Schärfe. Wo wir diesen
Typus im N. T. finden, im Gnomischen namentlich und im
Hymnischen, da herrscht der hebräische Sprachcharakter, und es
wäre unrecht, da die Differenzen bestimmt zu unterscheiden. Da-
gegen darf auf dialektisch fortschreitende Säze nicht dieser Kanon
angewendet werden, sondern der entgegengesezte. Beide Regeln
haben im N. T. ihr Gebiet der Anwendung, man muß jedes
gehörig unterscheiden.

Die quantitative Differenz findet im N. T. auch ganz besonders
in den formellen Sprachelementen Statt, namentlich in dem Ge-
brauch der Partikeln. Adversative Partikeln werden in nicht ent-

gegengeſezter Einſeitigkeiten und taugen in ſofern beide nicht.
Es genuͤgt auf die Pauliniſchen Briefe zu verweiſen, worin oft
rhetoriſche Stellen, beſonders Schlußſtellen von Abſchnitten vor-
kommen, in denen eine gewiſſe Sprachfuͤlle vorherrſcht, und man-
che Woͤrter faſt tautologiſch ſind. Hier iſt alſo das Gegentheil des
Emphatiſchen. Aber wir finden auch bei Paulus ὀξύμωϱα, und
was damit verwandt iſt, ein gewiſſes Spiel mit den Bedeutun-
gen deſſelben Ausdrucks. Solche Stellen haben auch einen be-
ſtimmten rhythmiſchen Charakter, aber das iſt untergeordnet, und
ſo entſteht die Aufforderung, die Ausdruͤcke genau zu nehmen.
Wendet man den Kanon jener Stellen auf dieſe an, oder umge-
kehrt, ſo verfehlt man den Sinn des Schriftſtellers. Sieht man
nun im Gegentheil von dieſer Art von Stellen, wo die Gedan-
ken nicht in fortſchreitender Entwickelung ſind, — denn auch die
ὀξύμωϱα ſind nur Ruhepunkte inmitten der Rede, — auf ſolche,
wo eine beſtimmte Gedankenentwickelung fortſchreitet, ſo finden
wir auch hier einen entgegengeſezten Charakter. Nemlich im He-
braͤiſchen finden wir an der Stelle des Periodiſchen, ſo wie des
Unterſchiedes zwiſchen Proſa und Poeſie, einen beſtimmten Typus,
oder Parallelismus, worin ein gewiſſes Wiegen des Gedankens
liegt, ſo daß in einer gewiſſen Arſis und Theſis derſelbe Gedanke
mit geringer Modification ausgedruͤckt wird. Die dialektiſche Dif-
ferenz verſchwindet, die Saͤze haben ein verſchiedenes Colorit, aber
keinesweges den Charakter dialektiſcher Schaͤrfe. Wo wir dieſen
Typus im N. T. finden, im Gnomiſchen namentlich und im
Hymniſchen, da herrſcht der hebraͤiſche Sprachcharakter, und es
waͤre unrecht, da die Differenzen beſtimmt zu unterſcheiden. Da-
gegen darf auf dialektiſch fortſchreitende Saͤze nicht dieſer Kanon
angewendet werden, ſondern der entgegengeſezte. Beide Regeln
haben im N. T. ihr Gebiet der Anwendung, man muß jedes
gehoͤrig unterſcheiden.

Die quantitative Differenz findet im N. T. auch ganz beſonders
in den formellen Sprachelementen Statt, namentlich in dem Ge-
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[136/0160] gegengeſezter Einſeitigkeiten und taugen in ſofern beide nicht. Es genuͤgt auf die Pauliniſchen Briefe zu verweiſen, worin oft rhetoriſche Stellen, beſonders Schlußſtellen von Abſchnitten vor- kommen, in denen eine gewiſſe Sprachfuͤlle vorherrſcht, und man- che Woͤrter faſt tautologiſch ſind. Hier iſt alſo das Gegentheil des Emphatiſchen. Aber wir finden auch bei Paulus ὀξύμωϱα, und was damit verwandt iſt, ein gewiſſes Spiel mit den Bedeutun- gen deſſelben Ausdrucks. Solche Stellen haben auch einen be- ſtimmten rhythmiſchen Charakter, aber das iſt untergeordnet, und ſo entſteht die Aufforderung, die Ausdruͤcke genau zu nehmen. Wendet man den Kanon jener Stellen auf dieſe an, oder umge- kehrt, ſo verfehlt man den Sinn des Schriftſtellers. Sieht man nun im Gegentheil von dieſer Art von Stellen, wo die Gedan- ken nicht in fortſchreitender Entwickelung ſind, — denn auch die ὀξύμωϱα ſind nur Ruhepunkte inmitten der Rede, — auf ſolche, wo eine beſtimmte Gedankenentwickelung fortſchreitet, ſo finden wir auch hier einen entgegengeſezten Charakter. Nemlich im He- braͤiſchen finden wir an der Stelle des Periodiſchen, ſo wie des Unterſchiedes zwiſchen Proſa und Poeſie, einen beſtimmten Typus, oder Parallelismus, worin ein gewiſſes Wiegen des Gedankens liegt, ſo daß in einer gewiſſen Arſis und Theſis derſelbe Gedanke mit geringer Modification ausgedruͤckt wird. Die dialektiſche Dif- ferenz verſchwindet, die Saͤze haben ein verſchiedenes Colorit, aber keinesweges den Charakter dialektiſcher Schaͤrfe. Wo wir dieſen Typus im N. T. finden, im Gnomiſchen namentlich und im Hymniſchen, da herrſcht der hebraͤiſche Sprachcharakter, und es waͤre unrecht, da die Differenzen beſtimmt zu unterſcheiden. Da- gegen darf auf dialektiſch fortſchreitende Saͤze nicht dieſer Kanon angewendet werden, ſondern der entgegengeſezte. Beide Regeln haben im N. T. ihr Gebiet der Anwendung, man muß jedes gehoͤrig unterſcheiden. Die quantitative Differenz findet im N. T. auch ganz beſonders in den formellen Sprachelementen Statt, namentlich in dem Ge- brauch der Partikeln. Adverſative Partikeln werden in nicht ent-

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/160>, abgerufen am 19.04.2024.