Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

nen, weil die Differenz des synonymen nicht eingeschlossen ist,
und es logisch gleichviel ist, ob der eine oder andere Ausdruck
steht, dieß ist denn das Gegentheil des Emphatischen. Dieser
Gegensaz ist gegeben und durch die Duplicität der Sprache be-
dingt. Manche Arten des Styles erfordern mehr musikalisches
als andere. Aber auch in der strengsten Gattung der Rede wird
der musikalische Einfluß nicht ganz fehlen. Man hat nun im N. T.
die Maxime aufgestellt, alles so emphatisch als möglich zu verste-
hen. Warum? Weil die neutest. Bücher keinen andern Zweck und
Charakter hätten, als die reine göttliche Wahrheit vollkommen dar-
zustellen. Allein das N. T. enthält offenbar Stellen, in denen
das rhetorische, andere, in denen das musikalische Element keinen
unbedeutenden Spielraum hat. Also ist jene Maxime falsch.
Man kann nicht sagen, daß das Emphatische dem N. T. eigen-
thümlich sei. Es findet sich auch außerdem. Es giebt in jeder
Composition Differenzen, die auf das eine oder andere hinweisen,
das Emphatische oder Abundirende. Der Punkt, von dem man
hier auszugehen hat, ist die Identität zwischen Denken und Re-
den. Aber diese Identität gestattet einen sehr freien Spielraum.
Zu einem und demselben Gedanken kann ein größeres oder gerin-
geres Sprachmaterial consumirt werden. Freilich müssen, genau
genommen, wo mehr Worte sind, auch mehr Gedanken sein, weil
jedes Wort ein Ausdruck ist. Allein wir können uns Fälle den-
ken, in welchen in einem beschränkteren Sprachmaterial alles ge-
dacht werden muß, was nur durch ein größeres ausgedrückt wer-
den zu können scheint. Ist bei dem geringeren Material durch
den Zusammenhang möglich gemacht, daß der Leser das Fehlende
hinzudenkt, so wird dasselbe erreicht, als wenn ein größeres ge-
braucht wäre. So lassen sich in verschiedenen Fällen verschiedene
Methoden denken, d. h. Fälle, wo der Kanon des Emphatischen
anwendbar ist, und wo er es nicht ist. Im N. T. haben die
älteren Ausleger die oben bezeichnete Maxime gehabt, so viel als
möglich emphatisch zu nehmen, die neueren dagegen, so wenig
als möglich. Beide Maximen sind aber offenbar nur Ausdruck ent-

nen, weil die Differenz des ſynonymen nicht eingeſchloſſen iſt,
und es logiſch gleichviel iſt, ob der eine oder andere Ausdruck
ſteht, dieß iſt denn das Gegentheil des Emphatiſchen. Dieſer
Gegenſaz iſt gegeben und durch die Duplicitaͤt der Sprache be-
dingt. Manche Arten des Styles erfordern mehr muſikaliſches
als andere. Aber auch in der ſtrengſten Gattung der Rede wird
der muſikaliſche Einfluß nicht ganz fehlen. Man hat nun im N. T.
die Maxime aufgeſtellt, alles ſo emphatiſch als moͤglich zu verſte-
hen. Warum? Weil die neuteſt. Buͤcher keinen andern Zweck und
Charakter haͤtten, als die reine goͤttliche Wahrheit vollkommen dar-
zuſtellen. Allein das N. T. enthaͤlt offenbar Stellen, in denen
das rhetoriſche, andere, in denen das muſikaliſche Element keinen
unbedeutenden Spielraum hat. Alſo iſt jene Maxime falſch.
Man kann nicht ſagen, daß das Emphatiſche dem N. T. eigen-
thuͤmlich ſei. Es findet ſich auch außerdem. Es giebt in jeder
Compoſition Differenzen, die auf das eine oder andere hinweiſen,
das Emphatiſche oder Abundirende. Der Punkt, von dem man
hier auszugehen hat, iſt die Identitaͤt zwiſchen Denken und Re-
den. Aber dieſe Identitaͤt geſtattet einen ſehr freien Spielraum.
Zu einem und demſelben Gedanken kann ein groͤßeres oder gerin-
geres Sprachmaterial conſumirt werden. Freilich muͤſſen, genau
genommen, wo mehr Worte ſind, auch mehr Gedanken ſein, weil
jedes Wort ein Ausdruck iſt. Allein wir koͤnnen uns Faͤlle den-
ken, in welchen in einem beſchraͤnkteren Sprachmaterial alles ge-
dacht werden muß, was nur durch ein groͤßeres ausgedruͤckt wer-
den zu koͤnnen ſcheint. Iſt bei dem geringeren Material durch
den Zuſammenhang moͤglich gemacht, daß der Leſer das Fehlende
hinzudenkt, ſo wird daſſelbe erreicht, als wenn ein groͤßeres ge-
braucht waͤre. So laſſen ſich in verſchiedenen Faͤllen verſchiedene
Methoden denken, d. h. Faͤlle, wo der Kanon des Emphatiſchen
anwendbar iſt, und wo er es nicht iſt. Im N. T. haben die
aͤlteren Ausleger die oben bezeichnete Maxime gehabt, ſo viel als
moͤglich emphatiſch zu nehmen, die neueren dagegen, ſo wenig
als moͤglich. Beide Maximen ſind aber offenbar nur Ausdruck ent-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0159" n="135"/>
nen, weil die Differenz des &#x017F;ynonymen nicht einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t,<lb/>
und es logi&#x017F;ch gleichviel i&#x017F;t, ob der eine oder andere Ausdruck<lb/>
&#x017F;teht, dieß i&#x017F;t denn das Gegentheil des Emphati&#x017F;chen. Die&#x017F;er<lb/>
Gegen&#x017F;az i&#x017F;t gegeben und durch die Duplicita&#x0364;t der Sprache be-<lb/>
dingt. Manche Arten des Styles erfordern mehr mu&#x017F;ikali&#x017F;ches<lb/>
als andere. Aber auch in der &#x017F;treng&#x017F;ten Gattung der Rede wird<lb/>
der mu&#x017F;ikali&#x017F;che Einfluß nicht ganz fehlen. Man hat nun im N. T.<lb/>
die Maxime aufge&#x017F;tellt, alles &#x017F;o emphati&#x017F;ch als mo&#x0364;glich zu ver&#x017F;te-<lb/>
hen. Warum? Weil die neute&#x017F;t. Bu&#x0364;cher keinen andern Zweck und<lb/>
Charakter ha&#x0364;tten, als die reine go&#x0364;ttliche Wahrheit vollkommen dar-<lb/>
zu&#x017F;tellen. Allein das N. T. entha&#x0364;lt offenbar Stellen, in denen<lb/>
das rhetori&#x017F;che, andere, in denen das mu&#x017F;ikali&#x017F;che Element keinen<lb/>
unbedeutenden Spielraum hat. Al&#x017F;o i&#x017F;t jene Maxime fal&#x017F;ch.<lb/>
Man kann nicht &#x017F;agen, daß das Emphati&#x017F;che dem N. T. eigen-<lb/>
thu&#x0364;mlich &#x017F;ei. Es findet &#x017F;ich auch außerdem. Es giebt in jeder<lb/>
Compo&#x017F;ition Differenzen, die auf das eine oder andere hinwei&#x017F;en,<lb/>
das Emphati&#x017F;che oder Abundirende. Der Punkt, von dem man<lb/>
hier auszugehen hat, i&#x017F;t die Identita&#x0364;t zwi&#x017F;chen Denken und Re-<lb/>
den. Aber die&#x017F;e Identita&#x0364;t ge&#x017F;tattet einen &#x017F;ehr freien Spielraum.<lb/>
Zu einem und dem&#x017F;elben Gedanken kann ein gro&#x0364;ßeres oder gerin-<lb/>
geres Sprachmaterial con&#x017F;umirt werden. Freilich mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, genau<lb/>
genommen, wo mehr Worte &#x017F;ind, auch mehr Gedanken &#x017F;ein, weil<lb/>
jedes Wort ein Ausdruck i&#x017F;t. Allein wir ko&#x0364;nnen uns Fa&#x0364;lle den-<lb/>
ken, in welchen in einem be&#x017F;chra&#x0364;nkteren Sprachmaterial alles ge-<lb/>
dacht werden muß, was nur durch ein gro&#x0364;ßeres ausgedru&#x0364;ckt wer-<lb/>
den zu ko&#x0364;nnen &#x017F;cheint. I&#x017F;t bei dem geringeren Material durch<lb/>
den Zu&#x017F;ammenhang mo&#x0364;glich gemacht, daß der Le&#x017F;er das Fehlende<lb/>
hinzudenkt, &#x017F;o wird da&#x017F;&#x017F;elbe erreicht, als wenn ein gro&#x0364;ßeres ge-<lb/>
braucht wa&#x0364;re. So la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich in ver&#x017F;chiedenen Fa&#x0364;llen ver&#x017F;chiedene<lb/>
Methoden denken, d. h. Fa&#x0364;lle, wo der Kanon des Emphati&#x017F;chen<lb/>
anwendbar i&#x017F;t, und wo er es nicht i&#x017F;t. Im N. T. haben die<lb/>
a&#x0364;lteren Ausleger die oben bezeichnete Maxime gehabt, &#x017F;o viel als<lb/>
mo&#x0364;glich emphati&#x017F;ch zu nehmen, die neueren dagegen, &#x017F;o wenig<lb/>
als mo&#x0364;glich. Beide Maximen &#x017F;ind aber offenbar nur Ausdruck ent-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[135/0159] nen, weil die Differenz des ſynonymen nicht eingeſchloſſen iſt, und es logiſch gleichviel iſt, ob der eine oder andere Ausdruck ſteht, dieß iſt denn das Gegentheil des Emphatiſchen. Dieſer Gegenſaz iſt gegeben und durch die Duplicitaͤt der Sprache be- dingt. Manche Arten des Styles erfordern mehr muſikaliſches als andere. Aber auch in der ſtrengſten Gattung der Rede wird der muſikaliſche Einfluß nicht ganz fehlen. Man hat nun im N. T. die Maxime aufgeſtellt, alles ſo emphatiſch als moͤglich zu verſte- hen. Warum? Weil die neuteſt. Buͤcher keinen andern Zweck und Charakter haͤtten, als die reine goͤttliche Wahrheit vollkommen dar- zuſtellen. Allein das N. T. enthaͤlt offenbar Stellen, in denen das rhetoriſche, andere, in denen das muſikaliſche Element keinen unbedeutenden Spielraum hat. Alſo iſt jene Maxime falſch. Man kann nicht ſagen, daß das Emphatiſche dem N. T. eigen- thuͤmlich ſei. Es findet ſich auch außerdem. Es giebt in jeder Compoſition Differenzen, die auf das eine oder andere hinweiſen, das Emphatiſche oder Abundirende. Der Punkt, von dem man hier auszugehen hat, iſt die Identitaͤt zwiſchen Denken und Re- den. Aber dieſe Identitaͤt geſtattet einen ſehr freien Spielraum. Zu einem und demſelben Gedanken kann ein groͤßeres oder gerin- geres Sprachmaterial conſumirt werden. Freilich muͤſſen, genau genommen, wo mehr Worte ſind, auch mehr Gedanken ſein, weil jedes Wort ein Ausdruck iſt. Allein wir koͤnnen uns Faͤlle den- ken, in welchen in einem beſchraͤnkteren Sprachmaterial alles ge- dacht werden muß, was nur durch ein groͤßeres ausgedruͤckt wer- den zu koͤnnen ſcheint. Iſt bei dem geringeren Material durch den Zuſammenhang moͤglich gemacht, daß der Leſer das Fehlende hinzudenkt, ſo wird daſſelbe erreicht, als wenn ein groͤßeres ge- braucht waͤre. So laſſen ſich in verſchiedenen Faͤllen verſchiedene Methoden denken, d. h. Faͤlle, wo der Kanon des Emphatiſchen anwendbar iſt, und wo er es nicht iſt. Im N. T. haben die aͤlteren Ausleger die oben bezeichnete Maxime gehabt, ſo viel als moͤglich emphatiſch zu nehmen, die neueren dagegen, ſo wenig als moͤglich. Beide Maximen ſind aber offenbar nur Ausdruck ent-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/159
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/159>, abgerufen am 24.04.2024.