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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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gewissen Sinne auch ohne jene Theorie zugeben. Allein wir müs-
sen doch bestimmte Grenzen aufstellen; wir werden sagen müssen,
in sofern und in solchen Stellen, wo es auf Darstellung
solcher Wahrheiten ankomme, werde jene Regel gelten. Allein
gerade bei der eigenthümlichen Beschaffenheit des N. T. läßt sich
dasselbe so gut wie auf nichts reduciren. Betrachten wir z. B.
die Art, wie in den Paulinischen Briefen die Wörter dikaios,
di[k]aiosune und dikaiousthai gebraucht werden, so sehen wir,
daß sie eigenthümliche Vorstellungen von dem Verhältnisse des Men-
schen zu Gott, wie es im Christenthume entstanden ist, bezeich-
nen; zugleich finden wir, daß sie eine polemische Beziehung ha-
ben auf den alttestam. Gebrauch. -- Wenn im Christenthume
das Verhältniß des Menschen zu Gott auf eine eigenthümliche
Weise gefaßt wird, wie sollte dieß ausgedrückt werden? Wenn
es streng kurios geschehen sollte, mußten für die neuen Vorstel-
lungen neue Wörter erfunden werden. Das ging nicht. Sie
konnten also nur auf indirectem Wege dargestellt werden, d. h. es
mußten schon vorhandene Ausdrücke genommen, aber anders
gewendet, potenzirt werden. Der Apostel modificirte die Nebenbe-
ziehungen, änderte die näheren Bestimmungen jener Ausdrücke, und
verwandelte auf die Weise den Grundgedanken derselben. Für je-
den jüdischen Leser war das ein uneigentlicher Gebrauch der Aus-
drücke, er mußte sagen, der Apostel gebraucht dikaiosune in einem
anderen Sinne, als wir. So findet sich also gerade in der Dar-
stellung der Hauptwahrheiten der uneigentliche Gebrauch. Wird
jene Maxime wie gewöhnlich, angewendet, so wird die richtige
Auslegung verfehlt und viel Übles angerichtet. Der dogmatische
Werth im N. und A. T. ist offenbar verschieden. Vieles was
sich auf das politische und theokratische Verhältniß im alten Bunde
bezog, mußte, wenn es im N. T. wieder aufgenommen wurde,
gänzlich modifizirt werden. -- Ferner ist gegen jene Maxime zu
bemerken, daß die neutestam. Schrift nicht die ursprüngliche Lehre
ist, sondern die mündliche zur Basis hat. So entstehen zweierlei
Möglichkeiten. Entweder ist das Schriftliche Erläuterung, weitere

gewiſſen Sinne auch ohne jene Theorie zugeben. Allein wir muͤſ-
ſen doch beſtimmte Grenzen aufſtellen; wir werden ſagen muͤſſen,
in ſofern und in ſolchen Stellen, wo es auf Darſtellung
ſolcher Wahrheiten ankomme, werde jene Regel gelten. Allein
gerade bei der eigenthuͤmlichen Beſchaffenheit des N. T. laͤßt ſich
daſſelbe ſo gut wie auf nichts reduciren. Betrachten wir z. B.
die Art, wie in den Pauliniſchen Briefen die Woͤrter δίϰαιος,
δι[ϰ]αιοσύνη und διϰαιοῦσϑαι gebraucht werden, ſo ſehen wir,
daß ſie eigenthuͤmliche Vorſtellungen von dem Verhaͤltniſſe des Men-
ſchen zu Gott, wie es im Chriſtenthume entſtanden iſt, bezeich-
nen; zugleich finden wir, daß ſie eine polemiſche Beziehung ha-
ben auf den altteſtam. Gebrauch. — Wenn im Chriſtenthume
das Verhaͤltniß des Menſchen zu Gott auf eine eigenthuͤmliche
Weiſe gefaßt wird, wie ſollte dieß ausgedruͤckt werden? Wenn
es ſtreng ϰυϱίως geſchehen ſollte, mußten fuͤr die neuen Vorſtel-
lungen neue Woͤrter erfunden werden. Das ging nicht. Sie
konnten alſo nur auf indirectem Wege dargeſtellt werden, d. h. es
mußten ſchon vorhandene Ausdruͤcke genommen, aber anders
gewendet, potenzirt werden. Der Apoſtel modificirte die Nebenbe-
ziehungen, aͤnderte die naͤheren Beſtimmungen jener Ausdruͤcke, und
verwandelte auf die Weiſe den Grundgedanken derſelben. Fuͤr je-
den juͤdiſchen Leſer war das ein uneigentlicher Gebrauch der Aus-
druͤcke, er mußte ſagen, der Apoſtel gebraucht διϰαιοσύνη in einem
anderen Sinne, als wir. So findet ſich alſo gerade in der Dar-
ſtellung der Hauptwahrheiten der uneigentliche Gebrauch. Wird
jene Maxime wie gewoͤhnlich, angewendet, ſo wird die richtige
Auslegung verfehlt und viel Übles angerichtet. Der dogmatiſche
Werth im N. und A. T. iſt offenbar verſchieden. Vieles was
ſich auf das politiſche und theokratiſche Verhaͤltniß im alten Bunde
bezog, mußte, wenn es im N. T. wieder aufgenommen wurde,
gaͤnzlich modifizirt werden. — Ferner iſt gegen jene Maxime zu
bemerken, daß die neuteſtam. Schrift nicht die urſpruͤngliche Lehre
iſt, ſondern die muͤndliche zur Baſis hat. So entſtehen zweierlei
Moͤglichkeiten. Entweder iſt das Schriftliche Erlaͤuterung, weitere

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[133/0157] gewiſſen Sinne auch ohne jene Theorie zugeben. Allein wir muͤſ- ſen doch beſtimmte Grenzen aufſtellen; wir werden ſagen muͤſſen, in ſofern und in ſolchen Stellen, wo es auf Darſtellung ſolcher Wahrheiten ankomme, werde jene Regel gelten. Allein gerade bei der eigenthuͤmlichen Beſchaffenheit des N. T. laͤßt ſich daſſelbe ſo gut wie auf nichts reduciren. Betrachten wir z. B. die Art, wie in den Pauliniſchen Briefen die Woͤrter δίϰαιος, διϰαιοσύνη und διϰαιοῦσϑαι gebraucht werden, ſo ſehen wir, daß ſie eigenthuͤmliche Vorſtellungen von dem Verhaͤltniſſe des Men- ſchen zu Gott, wie es im Chriſtenthume entſtanden iſt, bezeich- nen; zugleich finden wir, daß ſie eine polemiſche Beziehung ha- ben auf den altteſtam. Gebrauch. — Wenn im Chriſtenthume das Verhaͤltniß des Menſchen zu Gott auf eine eigenthuͤmliche Weiſe gefaßt wird, wie ſollte dieß ausgedruͤckt werden? Wenn es ſtreng ϰυϱίως geſchehen ſollte, mußten fuͤr die neuen Vorſtel- lungen neue Woͤrter erfunden werden. Das ging nicht. Sie konnten alſo nur auf indirectem Wege dargeſtellt werden, d. h. es mußten ſchon vorhandene Ausdruͤcke genommen, aber anders gewendet, potenzirt werden. Der Apoſtel modificirte die Nebenbe- ziehungen, aͤnderte die naͤheren Beſtimmungen jener Ausdruͤcke, und verwandelte auf die Weiſe den Grundgedanken derſelben. Fuͤr je- den juͤdiſchen Leſer war das ein uneigentlicher Gebrauch der Aus- druͤcke, er mußte ſagen, der Apoſtel gebraucht διϰαιοσύνη in einem anderen Sinne, als wir. So findet ſich alſo gerade in der Dar- ſtellung der Hauptwahrheiten der uneigentliche Gebrauch. Wird jene Maxime wie gewoͤhnlich, angewendet, ſo wird die richtige Auslegung verfehlt und viel Übles angerichtet. Der dogmatiſche Werth im N. und A. T. iſt offenbar verſchieden. Vieles was ſich auf das politiſche und theokratiſche Verhaͤltniß im alten Bunde bezog, mußte, wenn es im N. T. wieder aufgenommen wurde, gaͤnzlich modifizirt werden. — Ferner iſt gegen jene Maxime zu bemerken, daß die neuteſtam. Schrift nicht die urſpruͤngliche Lehre iſt, ſondern die muͤndliche zur Baſis hat. So entſtehen zweierlei Moͤglichkeiten. Entweder iſt das Schriftliche Erlaͤuterung, weitere

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/157>, abgerufen am 29.03.2024.