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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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selbe Weise von dem Evangelium des Johannes. So ensteht
bei jenen die Besorgniß, daß zusammengehörige historische Mo-
mente getrennt sind an verschiedenen Stellen, und wiederum daß
verschiedene Elemente zusammengestellt sind. Da ist dann mög-
lich, daß eine Stelle, die wir zur Erklärung einer andern gebrau-
chen, gar nicht von demselben Referenten herrührt, also auch aus
einem ganz andern Sprachgebiete. Selbst Theile desselben Zu-
sammenhangs können aus verschiedenen Schriftstellern entnommen
sein. Matth. 13. z. B. folgen hintereinander mehrere Gleichnisse
über die basileia t. theou, von denen jedes etwas anderes von
dem Gegenstande hervorhebt. Wahrscheinlich sind diese Gleichnisse
zu verschiedenen Zeiten vorgetragen und hier nur zusammen-
gestellt. Hier ist nun zwar der Hauptbegriff, als feststehender,
derselbe, aber untergeordnete Begriffe, die zu dem Hauptbegriff in
keiner festen Beziehung stehen, könnten in verschiedenen Gleich-
nissen verschieden gebraucht sein. Dieß ist genau zu untersuchen,
und dabei überhaupt große Vorsicht nöthig. Stellen, die nicht
erweislich demselben unmittelbaren Complexus, demselben historischen
Fragment angehören, müssen vorsichtig als Stellen verwandter
Schriftsteller, die denselben Gegenstand behandeln, betrachtet wer-
den. Dieser Kanon entscheidet die streitige Frage über die Com-
position der Evangelien nicht, aber unter den gegebenen Umstän-
den ist er nothwendige Sicherheitsmaßregel, die vor falschen Re-
sultaten bewahrt. Wenn die Stellen wirklich demselben Verfasser
angehören, werden sich auch davon Indicien genug darbieten.

Nicht alles in den historischen Schriften ist historisch, manches
didaktisch. Dabei entsteht die Frage, ob dieß in historischen und
brieflichen Schriften verschieden sei. Der Unterschied kann nicht
groß sein. Denn die mündliche Rede, wie sie in den neutest.
Schriften vorkommt, hat dieselbe Freiheit, wie der Brief.

Was die Parallelen im eigentlichen Sinn betrifft, so entsteht
die Frage, wiefern in dieser Beziehung das N. T. Ein Ganzes
ist und wie sich die verschiedenen Schriftsteller zu einander ver-
halten? Dieß führt auf die Frage über die Inspiration. Aus


ſelbe Weiſe von dem Evangelium des Johannes. So enſteht
bei jenen die Beſorgniß, daß zuſammengehoͤrige hiſtoriſche Mo-
mente getrennt ſind an verſchiedenen Stellen, und wiederum daß
verſchiedene Elemente zuſammengeſtellt ſind. Da iſt dann moͤg-
lich, daß eine Stelle, die wir zur Erklaͤrung einer andern gebrau-
chen, gar nicht von demſelben Referenten herruͤhrt, alſo auch aus
einem ganz andern Sprachgebiete. Selbſt Theile deſſelben Zu-
ſammenhangs koͤnnen aus verſchiedenen Schriftſtellern entnommen
ſein. Matth. 13. z. B. folgen hintereinander mehrere Gleichniſſe
uͤber die βασιλεία τ. ϑεοῦ, von denen jedes etwas anderes von
dem Gegenſtande hervorhebt. Wahrſcheinlich ſind dieſe Gleichniſſe
zu verſchiedenen Zeiten vorgetragen und hier nur zuſammen-
geſtellt. Hier iſt nun zwar der Hauptbegriff, als feſtſtehender,
derſelbe, aber untergeordnete Begriffe, die zu dem Hauptbegriff in
keiner feſten Beziehung ſtehen, koͤnnten in verſchiedenen Gleich-
niſſen verſchieden gebraucht ſein. Dieß iſt genau zu unterſuchen,
und dabei uͤberhaupt große Vorſicht noͤthig. Stellen, die nicht
erweislich demſelben unmittelbaren Complexus, demſelben hiſtoriſchen
Fragment angehoͤren, muͤſſen vorſichtig als Stellen verwandter
Schriftſteller, die denſelben Gegenſtand behandeln, betrachtet wer-
den. Dieſer Kanon entſcheidet die ſtreitige Frage uͤber die Com-
poſition der Evangelien nicht, aber unter den gegebenen Umſtaͤn-
den iſt er nothwendige Sicherheitsmaßregel, die vor falſchen Re-
ſultaten bewahrt. Wenn die Stellen wirklich demſelben Verfaſſer
angehoͤren, werden ſich auch davon Indicien genug darbieten.

Nicht alles in den hiſtoriſchen Schriften iſt hiſtoriſch, manches
didaktiſch. Dabei entſteht die Frage, ob dieß in hiſtoriſchen und
brieflichen Schriften verſchieden ſei. Der Unterſchied kann nicht
groß ſein. Denn die muͤndliche Rede, wie ſie in den neuteſt.
Schriften vorkommt, hat dieſelbe Freiheit, wie der Brief.

Was die Parallelen im eigentlichen Sinn betrifft, ſo entſteht
die Frage, wiefern in dieſer Beziehung das N. T. Ein Ganzes
iſt und wie ſich die verſchiedenen Schriftſteller zu einander ver-
halten? Dieß fuͤhrt auf die Frage uͤber die Inſpiration. Aus

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[111/0135] ſelbe Weiſe von dem Evangelium des Johannes. So enſteht bei jenen die Beſorgniß, daß zuſammengehoͤrige hiſtoriſche Mo- mente getrennt ſind an verſchiedenen Stellen, und wiederum daß verſchiedene Elemente zuſammengeſtellt ſind. Da iſt dann moͤg- lich, daß eine Stelle, die wir zur Erklaͤrung einer andern gebrau- chen, gar nicht von demſelben Referenten herruͤhrt, alſo auch aus einem ganz andern Sprachgebiete. Selbſt Theile deſſelben Zu- ſammenhangs koͤnnen aus verſchiedenen Schriftſtellern entnommen ſein. Matth. 13. z. B. folgen hintereinander mehrere Gleichniſſe uͤber die βασιλεία τ. ϑεοῦ, von denen jedes etwas anderes von dem Gegenſtande hervorhebt. Wahrſcheinlich ſind dieſe Gleichniſſe zu verſchiedenen Zeiten vorgetragen und hier nur zuſammen- geſtellt. Hier iſt nun zwar der Hauptbegriff, als feſtſtehender, derſelbe, aber untergeordnete Begriffe, die zu dem Hauptbegriff in keiner feſten Beziehung ſtehen, koͤnnten in verſchiedenen Gleich- niſſen verſchieden gebraucht ſein. Dieß iſt genau zu unterſuchen, und dabei uͤberhaupt große Vorſicht noͤthig. Stellen, die nicht erweislich demſelben unmittelbaren Complexus, demſelben hiſtoriſchen Fragment angehoͤren, muͤſſen vorſichtig als Stellen verwandter Schriftſteller, die denſelben Gegenſtand behandeln, betrachtet wer- den. Dieſer Kanon entſcheidet die ſtreitige Frage uͤber die Com- poſition der Evangelien nicht, aber unter den gegebenen Umſtaͤn- den iſt er nothwendige Sicherheitsmaßregel, die vor falſchen Re- ſultaten bewahrt. Wenn die Stellen wirklich demſelben Verfaſſer angehoͤren, werden ſich auch davon Indicien genug darbieten. Nicht alles in den hiſtoriſchen Schriften iſt hiſtoriſch, manches didaktiſch. Dabei entſteht die Frage, ob dieß in hiſtoriſchen und brieflichen Schriften verſchieden ſei. Der Unterſchied kann nicht groß ſein. Denn die muͤndliche Rede, wie ſie in den neuteſt. Schriften vorkommt, hat dieſelbe Freiheit, wie der Brief. Was die Parallelen im eigentlichen Sinn betrifft, ſo entſteht die Frage, wiefern in dieſer Beziehung das N. T. Ein Ganzes iſt und wie ſich die verſchiedenen Schriftſteller zu einander ver- halten? Dieß fuͤhrt auf die Frage uͤber die Inſpiration. Aus

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/135>, abgerufen am 25.04.2024.