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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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gemeine Typus ist die Vergleichung, die beiden Endpunkte die
ausgeführte Allegorie und der einfache bildliche Ausdruck.

Ist nun ein solcher Ausdruck im Zusammenhange nicht un-
mittelbar klar, sondern vieldeutig, so entsteht eine hermeneutische
Aufgabe, wobei wir mehrere Fälle zu unterscheiden haben.

Was zuerst den Fall betrifft, wo bei solchen bildlichen
Ausdrücken ihr eigentlicher Sprachwerth nicht mitgedacht werden
soll, so ergiebt sich wol unmittelbar, daß der obige Kanon zur
Bestimmung der Nebengedanken (nemlich aus den Stellen, wo die-
selben als Hauptgedanken erscheinen) hier nicht angewendet wer-
den kann. Denn, wenn der eigentliche Sprachwerth nicht mitge-
dacht werden soll, so kann ich den bildlichen aus diesem nicht er-
klären. Nun aber giebt es solenne bildliche Ausdrücke. Gewisse
Gegenstände haben gewisse Complexe von bildlichen Ausdrücken,
durch welche dieselben in gewisser Beziehung dargestellt werden.
Diese streifen an die eigentlichen Ausdrücke an, sind aber von ih-
rem eigenthümlichen Sprachwerth so entfernt, daß sie von hier
aus in ihrem Verhältnisse zu dem, was sie erläutern sollen, nicht
verstanden werden können. Man spricht z. B. bei einem Ge-
mälde vom Tone, was aus der Musik, von Motifen, was aus der
Poesie genommen ist, und das ist wechselseitig. Wo nun solche Ver-
wandtschaft eintritt, da liegt der Erklärungsgrund im Identischen,
wie eben dieß die Ursach ist. Aber das ist gerade das Gebiet, wo
die hermeneutische Operation am schwersten ist. Musik, Malerei,
Poesie sind als Künste verwandt. Rede ich in der Poesie von
Farbe, in der Malerei vom Ton, so ist der Ausdruck für die ver-
schiedenen Künste derselbe. Aber der Sprachgebrauch hat sich an-
ders gestellt, für ihn ist der Ton nur Element der Musik, nicht
der Malerei. Es mußte also der Ausdruck erst eine Erweiterung
erfahren, ehe er auf ein fremdes Gebiet übertragen werden konnte.
Es mögen solche Ausdrücke oft gebraucht werden, ohne daß der
Gedanke recht zur Klarheit gekommen. Aber wo solche Übertra-
gungen stattfinden, muß die Vergleichung auf einer Verwandt-
schaft beruhen, einer nachweislichen, denn sonst wären die bildlichen

gemeine Typus iſt die Vergleichung, die beiden Endpunkte die
ausgefuͤhrte Allegorie und der einfache bildliche Ausdruck.

Iſt nun ein ſolcher Ausdruck im Zuſammenhange nicht un-
mittelbar klar, ſondern vieldeutig, ſo entſteht eine hermeneutiſche
Aufgabe, wobei wir mehrere Faͤlle zu unterſcheiden haben.

Was zuerſt den Fall betrifft, wo bei ſolchen bildlichen
Ausdruͤcken ihr eigentlicher Sprachwerth nicht mitgedacht werden
ſoll, ſo ergiebt ſich wol unmittelbar, daß der obige Kanon zur
Beſtimmung der Nebengedanken (nemlich aus den Stellen, wo die-
ſelben als Hauptgedanken erſcheinen) hier nicht angewendet wer-
den kann. Denn, wenn der eigentliche Sprachwerth nicht mitge-
dacht werden ſoll, ſo kann ich den bildlichen aus dieſem nicht er-
klaͤren. Nun aber giebt es ſolenne bildliche Ausdruͤcke. Gewiſſe
Gegenſtaͤnde haben gewiſſe Complexe von bildlichen Ausdruͤcken,
durch welche dieſelben in gewiſſer Beziehung dargeſtellt werden.
Dieſe ſtreifen an die eigentlichen Ausdruͤcke an, ſind aber von ih-
rem eigenthuͤmlichen Sprachwerth ſo entfernt, daß ſie von hier
aus in ihrem Verhaͤltniſſe zu dem, was ſie erlaͤutern ſollen, nicht
verſtanden werden koͤnnen. Man ſpricht z. B. bei einem Ge-
maͤlde vom Tone, was aus der Muſik, von Motifen, was aus der
Poeſie genommen iſt, und das iſt wechſelſeitig. Wo nun ſolche Ver-
wandtſchaft eintritt, da liegt der Erklaͤrungsgrund im Identiſchen,
wie eben dieß die Urſach iſt. Aber das iſt gerade das Gebiet, wo
die hermeneutiſche Operation am ſchwerſten iſt. Muſik, Malerei,
Poeſie ſind als Kuͤnſte verwandt. Rede ich in der Poeſie von
Farbe, in der Malerei vom Ton, ſo iſt der Ausdruck fuͤr die ver-
ſchiedenen Kuͤnſte derſelbe. Aber der Sprachgebrauch hat ſich an-
ders geſtellt, fuͤr ihn iſt der Ton nur Element der Muſik, nicht
der Malerei. Es mußte alſo der Ausdruck erſt eine Erweiterung
erfahren, ehe er auf ein fremdes Gebiet uͤbertragen werden konnte.
Es moͤgen ſolche Ausdruͤcke oft gebraucht werden, ohne daß der
Gedanke recht zur Klarheit gekommen. Aber wo ſolche Übertra-
gungen ſtattfinden, muß die Vergleichung auf einer Verwandt-
ſchaft beruhen, einer nachweislichen, denn ſonſt waͤren die bildlichen

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[106/0130] gemeine Typus iſt die Vergleichung, die beiden Endpunkte die ausgefuͤhrte Allegorie und der einfache bildliche Ausdruck. Iſt nun ein ſolcher Ausdruck im Zuſammenhange nicht un- mittelbar klar, ſondern vieldeutig, ſo entſteht eine hermeneutiſche Aufgabe, wobei wir mehrere Faͤlle zu unterſcheiden haben. Was zuerſt den Fall betrifft, wo bei ſolchen bildlichen Ausdruͤcken ihr eigentlicher Sprachwerth nicht mitgedacht werden ſoll, ſo ergiebt ſich wol unmittelbar, daß der obige Kanon zur Beſtimmung der Nebengedanken (nemlich aus den Stellen, wo die- ſelben als Hauptgedanken erſcheinen) hier nicht angewendet wer- den kann. Denn, wenn der eigentliche Sprachwerth nicht mitge- dacht werden ſoll, ſo kann ich den bildlichen aus dieſem nicht er- klaͤren. Nun aber giebt es ſolenne bildliche Ausdruͤcke. Gewiſſe Gegenſtaͤnde haben gewiſſe Complexe von bildlichen Ausdruͤcken, durch welche dieſelben in gewiſſer Beziehung dargeſtellt werden. Dieſe ſtreifen an die eigentlichen Ausdruͤcke an, ſind aber von ih- rem eigenthuͤmlichen Sprachwerth ſo entfernt, daß ſie von hier aus in ihrem Verhaͤltniſſe zu dem, was ſie erlaͤutern ſollen, nicht verſtanden werden koͤnnen. Man ſpricht z. B. bei einem Ge- maͤlde vom Tone, was aus der Muſik, von Motifen, was aus der Poeſie genommen iſt, und das iſt wechſelſeitig. Wo nun ſolche Ver- wandtſchaft eintritt, da liegt der Erklaͤrungsgrund im Identiſchen, wie eben dieß die Urſach iſt. Aber das iſt gerade das Gebiet, wo die hermeneutiſche Operation am ſchwerſten iſt. Muſik, Malerei, Poeſie ſind als Kuͤnſte verwandt. Rede ich in der Poeſie von Farbe, in der Malerei vom Ton, ſo iſt der Ausdruck fuͤr die ver- ſchiedenen Kuͤnſte derſelbe. Aber der Sprachgebrauch hat ſich an- ders geſtellt, fuͤr ihn iſt der Ton nur Element der Muſik, nicht der Malerei. Es mußte alſo der Ausdruck erſt eine Erweiterung erfahren, ehe er auf ein fremdes Gebiet uͤbertragen werden konnte. Es moͤgen ſolche Ausdruͤcke oft gebraucht werden, ohne daß der Gedanke recht zur Klarheit gekommen. Aber wo ſolche Übertra- gungen ſtattfinden, muß die Vergleichung auf einer Verwandt- ſchaft beruhen, einer nachweislichen, denn ſonſt waͤren die bildlichen

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/130>, abgerufen am 29.03.2024.