Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

der logischen Analyse die lyrische Poesie. In dieser herrscht eine
so freie Gedankenbewegung, daß es schwer hält zu bestimmen,
was Haupt- und Nebengedanke und bloßes Darstellungsmittel
ist. Dieß hat seinen lezten Grund darin, daß in der lyrischen
Poesie, wo es darauf ankommt, die Bewegung des unmittel-
baren Selbstbewußtseins auszudrücken, der Gedanke selbst ei-
gentlich nur Darstellungsmittel ist. Sind aber alle Gedanken
nur Darstellungsmittel, so verschwindet der relative Gegensaz
zwischen Haupt- und Nebengedanken. Ebenso verschwindet die-
ser Gegensaz nur auf entgegengesezte Weise da, wo alle Ge-
danken Hauptgedanken sind, d. i. in der streng wissenschaftlich
systematischen Darstellung. Hier ist Ein Gedanke die unmittel-
bare Form des Ganzen, und alles Einzelne integrirender Theil
desselben. So haben wir die beiden Endpunkte für unseren
Kanon, wo er den geringsten Werth zu haben scheint. Aber sie
sind am meisten geeignet, die Anwendbarkeit der Theorie von
den entgegengesezten Punkten aus deutlich zu machen.

Die hermeneutische Aufgabe ist bei der lyrischen Poesie be-
sonders schwierig. Der lyrische Dichter ist in vollkommen freier
Gedankenbewegung, der Leser aber nicht immer lyrischer Leser,
und in dem Grade unvermögend aus seinem eigenen Bewußt-
sein das lyrische Gedicht nachzuconstruiren. Der aufgestellte her-
meneutische Kanon beruht auf der Voraussezung eines gebun-
denen Gedankenganges, ist also insofern nicht unmittelbar an-
wendbar auf die lyrische Poesie, weil hier die Ungebundenheit
herrscht. Wie ist nun zu verfahren? Die vorläufige Übersicht
eines lyrischen Produkts giebt uns zwar keinen Unterschied von
Haupt- und Nebengedanken, aber sie hebt doch manches her-
vor, was uns gewiß wird. Dieß ist aber zunächst das was als
Negation des gebundenen Gedankenganges erscheint, d. h. was
sich als Sprung und als Wendepunkt darstellt. Dieß führt
aber wieder auf das Gebundene zurück, wovon auch die freieste
Gedankenbewegung sich nicht ganz frei machen kann. Die orga-
nische Form im lyrischen Saze ist wesentliche dieselbe, ebenso die

der logiſchen Analyſe die lyriſche Poeſie. In dieſer herrſcht eine
ſo freie Gedankenbewegung, daß es ſchwer haͤlt zu beſtimmen,
was Haupt- und Nebengedanke und bloßes Darſtellungsmittel
iſt. Dieß hat ſeinen lezten Grund darin, daß in der lyriſchen
Poeſie, wo es darauf ankommt, die Bewegung des unmittel-
baren Selbſtbewußtſeins auszudruͤcken, der Gedanke ſelbſt ei-
gentlich nur Darſtellungsmittel iſt. Sind aber alle Gedanken
nur Darſtellungsmittel, ſo verſchwindet der relative Gegenſaz
zwiſchen Haupt- und Nebengedanken. Ebenſo verſchwindet die-
ſer Gegenſaz nur auf entgegengeſezte Weiſe da, wo alle Ge-
danken Hauptgedanken ſind, d. i. in der ſtreng wiſſenſchaftlich
ſyſtematiſchen Darſtellung. Hier iſt Ein Gedanke die unmittel-
bare Form des Ganzen, und alles Einzelne integrirender Theil
deſſelben. So haben wir die beiden Endpunkte fuͤr unſeren
Kanon, wo er den geringſten Werth zu haben ſcheint. Aber ſie
ſind am meiſten geeignet, die Anwendbarkeit der Theorie von
den entgegengeſezten Punkten aus deutlich zu machen.

Die hermeneutiſche Aufgabe iſt bei der lyriſchen Poeſie be-
ſonders ſchwierig. Der lyriſche Dichter iſt in vollkommen freier
Gedankenbewegung, der Leſer aber nicht immer lyriſcher Leſer,
und in dem Grade unvermoͤgend aus ſeinem eigenen Bewußt-
ſein das lyriſche Gedicht nachzuconſtruiren. Der aufgeſtellte her-
meneutiſche Kanon beruht auf der Vorausſezung eines gebun-
denen Gedankenganges, iſt alſo inſofern nicht unmittelbar an-
wendbar auf die lyriſche Poeſie, weil hier die Ungebundenheit
herrſcht. Wie iſt nun zu verfahren? Die vorlaͤufige Überſicht
eines lyriſchen Produkts giebt uns zwar keinen Unterſchied von
Haupt- und Nebengedanken, aber ſie hebt doch manches her-
vor, was uns gewiß wird. Dieß iſt aber zunaͤchſt das was als
Negation des gebundenen Gedankenganges erſcheint, d. h. was
ſich als Sprung und als Wendepunkt darſtellt. Dieß fuͤhrt
aber wieder auf das Gebundene zuruͤck, wovon auch die freieſte
Gedankenbewegung ſich nicht ganz frei machen kann. Die orga-
niſche Form im lyriſchen Saze iſt weſentliche dieſelbe, ebenſo die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0120" n="96"/>
der logi&#x017F;chen Analy&#x017F;e die lyri&#x017F;che Poe&#x017F;ie. In die&#x017F;er herr&#x017F;cht eine<lb/>
&#x017F;o freie Gedankenbewegung, daß es &#x017F;chwer ha&#x0364;lt zu be&#x017F;timmen,<lb/>
was Haupt- und Nebengedanke und bloßes Dar&#x017F;tellungsmittel<lb/>
i&#x017F;t. Dieß hat &#x017F;einen lezten Grund darin, daß in der lyri&#x017F;chen<lb/>
Poe&#x017F;ie, wo es darauf ankommt, die Bewegung des unmittel-<lb/>
baren Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;eins auszudru&#x0364;cken, der Gedanke &#x017F;elb&#x017F;t ei-<lb/>
gentlich nur Dar&#x017F;tellungsmittel i&#x017F;t. Sind aber alle Gedanken<lb/>
nur Dar&#x017F;tellungsmittel, &#x017F;o ver&#x017F;chwindet der relative Gegen&#x017F;az<lb/>
zwi&#x017F;chen Haupt- und Nebengedanken. Eben&#x017F;o ver&#x017F;chwindet die-<lb/>
&#x017F;er Gegen&#x017F;az nur auf entgegenge&#x017F;ezte Wei&#x017F;e da, wo alle Ge-<lb/>
danken Hauptgedanken &#x017F;ind, d. i. in der &#x017F;treng wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich<lb/>
&#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;chen Dar&#x017F;tellung. Hier i&#x017F;t Ein Gedanke die unmittel-<lb/>
bare Form des Ganzen, und alles Einzelne integrirender Theil<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben. So haben wir die beiden Endpunkte fu&#x0364;r un&#x017F;eren<lb/>
Kanon, wo er den gering&#x017F;ten Werth zu haben &#x017F;cheint. Aber &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ind am mei&#x017F;ten geeignet, die Anwendbarkeit der Theorie von<lb/>
den entgegenge&#x017F;ezten Punkten aus deutlich zu machen.</p><lb/>
            <p>Die hermeneuti&#x017F;che Aufgabe i&#x017F;t bei der lyri&#x017F;chen Poe&#x017F;ie be-<lb/>
&#x017F;onders &#x017F;chwierig. Der lyri&#x017F;che Dichter i&#x017F;t in vollkommen freier<lb/>
Gedankenbewegung, der Le&#x017F;er aber nicht immer lyri&#x017F;cher Le&#x017F;er,<lb/>
und in dem Grade unvermo&#x0364;gend aus &#x017F;einem eigenen Bewußt-<lb/>
&#x017F;ein das lyri&#x017F;che Gedicht nachzucon&#x017F;truiren. Der aufge&#x017F;tellte her-<lb/>
meneuti&#x017F;che Kanon beruht auf der Voraus&#x017F;ezung eines gebun-<lb/>
denen Gedankenganges, i&#x017F;t al&#x017F;o in&#x017F;ofern nicht unmittelbar an-<lb/>
wendbar auf die lyri&#x017F;che Poe&#x017F;ie, weil hier die Ungebundenheit<lb/>
herr&#x017F;cht. Wie i&#x017F;t nun zu verfahren? Die vorla&#x0364;ufige Über&#x017F;icht<lb/>
eines lyri&#x017F;chen Produkts giebt uns zwar keinen Unter&#x017F;chied von<lb/>
Haupt- und Nebengedanken, aber &#x017F;ie hebt doch manches her-<lb/>
vor, was uns gewiß wird. Dieß i&#x017F;t aber zuna&#x0364;ch&#x017F;t das was als<lb/>
Negation des gebundenen Gedankenganges er&#x017F;cheint, d. h. was<lb/>
&#x017F;ich als Sprung und als Wendepunkt dar&#x017F;tellt. Dieß fu&#x0364;hrt<lb/>
aber wieder auf das Gebundene zuru&#x0364;ck, wovon auch die freie&#x017F;te<lb/>
Gedankenbewegung &#x017F;ich nicht ganz frei machen kann. Die orga-<lb/>
ni&#x017F;che Form im lyri&#x017F;chen Saze i&#x017F;t we&#x017F;entliche die&#x017F;elbe, eben&#x017F;o die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0120] der logiſchen Analyſe die lyriſche Poeſie. In dieſer herrſcht eine ſo freie Gedankenbewegung, daß es ſchwer haͤlt zu beſtimmen, was Haupt- und Nebengedanke und bloßes Darſtellungsmittel iſt. Dieß hat ſeinen lezten Grund darin, daß in der lyriſchen Poeſie, wo es darauf ankommt, die Bewegung des unmittel- baren Selbſtbewußtſeins auszudruͤcken, der Gedanke ſelbſt ei- gentlich nur Darſtellungsmittel iſt. Sind aber alle Gedanken nur Darſtellungsmittel, ſo verſchwindet der relative Gegenſaz zwiſchen Haupt- und Nebengedanken. Ebenſo verſchwindet die- ſer Gegenſaz nur auf entgegengeſezte Weiſe da, wo alle Ge- danken Hauptgedanken ſind, d. i. in der ſtreng wiſſenſchaftlich ſyſtematiſchen Darſtellung. Hier iſt Ein Gedanke die unmittel- bare Form des Ganzen, und alles Einzelne integrirender Theil deſſelben. So haben wir die beiden Endpunkte fuͤr unſeren Kanon, wo er den geringſten Werth zu haben ſcheint. Aber ſie ſind am meiſten geeignet, die Anwendbarkeit der Theorie von den entgegengeſezten Punkten aus deutlich zu machen. Die hermeneutiſche Aufgabe iſt bei der lyriſchen Poeſie be- ſonders ſchwierig. Der lyriſche Dichter iſt in vollkommen freier Gedankenbewegung, der Leſer aber nicht immer lyriſcher Leſer, und in dem Grade unvermoͤgend aus ſeinem eigenen Bewußt- ſein das lyriſche Gedicht nachzuconſtruiren. Der aufgeſtellte her- meneutiſche Kanon beruht auf der Vorausſezung eines gebun- denen Gedankenganges, iſt alſo inſofern nicht unmittelbar an- wendbar auf die lyriſche Poeſie, weil hier die Ungebundenheit herrſcht. Wie iſt nun zu verfahren? Die vorlaͤufige Überſicht eines lyriſchen Produkts giebt uns zwar keinen Unterſchied von Haupt- und Nebengedanken, aber ſie hebt doch manches her- vor, was uns gewiß wird. Dieß iſt aber zunaͤchſt das was als Negation des gebundenen Gedankenganges erſcheint, d. h. was ſich als Sprung und als Wendepunkt darſtellt. Dieß fuͤhrt aber wieder auf das Gebundene zuruͤck, wovon auch die freieſte Gedankenbewegung ſich nicht ganz frei machen kann. Die orga- niſche Form im lyriſchen Saze iſt weſentliche dieſelbe, ebenſo die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/120
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/120>, abgerufen am 24.04.2024.