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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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2. Ob Säze coordinirt oder subordinirt sind, das muß aus
den Partikeln und Verbindungsweisen hervorgehn; aber der
Inhalt ist ergänzend. Je mehr in einer Sprache und Rede-
gattung die Verbindungsformeln bestimmt sind, um desto we-
niger braucht man erst nach dem Inhalt der Säze zu fragen, und
umgekehrt je klarer der Zusammenhang ist, desto weniger kommt
auf eine Anomalie im Gebrauch der Verbindungsformeln an.

3. In losen Formen aber wie die neutestam. überhaupt
sind ist es schwierig, Haupt- und Nebengedanke aus dem
Sprachgebiet zu unterscheiden, weil dieser Gegensaz selbst nicht
stark gespannt ist sondern beim leichten Wechsel der Materie
eins in das andere übergeht. Dann muß das andere zu Hülfe
kommen, und indem man das Verhältniß eines Sazes zu ei-
nem andern erkennt muß man vermittelst desselben auch das
zum Ganzen finden.

Zusaz: Hieraus ist auch die unrichtige Klassification dog-
matischer Stellen zu erklären, welche eigentlich auf der Maxime
beruht, daß in den neutest. Schriften alles dogmatische gleich
müsse Hauptgedanke werden. Diese Maxime ist aber unhaltbar.

Schlußbemerkung.

Die zulezt behandelten Gegenstände haben uns am meisten
auf die technische Interpretation hingewiesen. Nicht als ob die
Maxime daß eigentlich jede Seite für sich hinreichen müsse an sich
unrecht wäre; aber sie sezt eine so vollkommene Sprachkenntniß
voraus, wie ohne vollendete Auslegung nicht möglich ist.

Da nun wenn Sprachkenntniß mangelt ich zwar die Sprach-
kenntniß Anderer zu Hülfe nehmen muß, aber diese selbst nur
mit einer mangelhaften Sprachkenntniß benuzen kann: so muß
in jedem solchen Falle die technische Auslegung Ergänzung sein.
Und eben so umgekehrt kann ich die Kenntniß Anderer vom Ver-
fasser nur mittelst meiner mangelhaften Kenntniß von ihnen selbst
benuzen, also muß mir die grammatische Auslegung zur Ergän-
zung dienen.


2. Ob Saͤze coordinirt oder ſubordinirt ſind, das muß aus
den Partikeln und Verbindungsweiſen hervorgehn; aber der
Inhalt iſt ergaͤnzend. Je mehr in einer Sprache und Rede-
gattung die Verbindungsformeln beſtimmt ſind, um deſto we-
niger braucht man erſt nach dem Inhalt der Saͤze zu fragen, und
umgekehrt je klarer der Zuſammenhang iſt, deſto weniger kommt
auf eine Anomalie im Gebrauch der Verbindungsformeln an.

3. In loſen Formen aber wie die neuteſtam. uͤberhaupt
ſind iſt es ſchwierig, Haupt- und Nebengedanke aus dem
Sprachgebiet zu unterſcheiden, weil dieſer Gegenſaz ſelbſt nicht
ſtark geſpannt iſt ſondern beim leichten Wechſel der Materie
eins in das andere uͤbergeht. Dann muß das andere zu Huͤlfe
kommen, und indem man das Verhaͤltniß eines Sazes zu ei-
nem andern erkennt muß man vermittelſt deſſelben auch das
zum Ganzen finden.

Zuſaz: Hieraus iſt auch die unrichtige Klaſſification dog-
matiſcher Stellen zu erklaͤren, welche eigentlich auf der Maxime
beruht, daß in den neuteſt. Schriften alles dogmatiſche gleich
muͤſſe Hauptgedanke werden. Dieſe Maxime iſt aber unhaltbar.

Schlußbemerkung.

Die zulezt behandelten Gegenſtaͤnde haben uns am meiſten
auf die techniſche Interpretation hingewieſen. Nicht als ob die
Maxime daß eigentlich jede Seite fuͤr ſich hinreichen muͤſſe an ſich
unrecht waͤre; aber ſie ſezt eine ſo vollkommene Sprachkenntniß
voraus, wie ohne vollendete Auslegung nicht moͤglich iſt.

Da nun wenn Sprachkenntniß mangelt ich zwar die Sprach-
kenntniß Anderer zu Huͤlfe nehmen muß, aber dieſe ſelbſt nur
mit einer mangelhaften Sprachkenntniß benuzen kann: ſo muß
in jedem ſolchen Falle die techniſche Auslegung Ergaͤnzung ſein.
Und eben ſo umgekehrt kann ich die Kenntniß Anderer vom Ver-
faſſer nur mittelſt meiner mangelhaften Kenntniß von ihnen ſelbſt
benuzen, alſo muß mir die grammatiſche Auslegung zur Ergaͤn-
zung dienen.


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[90/0114] 2. Ob Saͤze coordinirt oder ſubordinirt ſind, das muß aus den Partikeln und Verbindungsweiſen hervorgehn; aber der Inhalt iſt ergaͤnzend. Je mehr in einer Sprache und Rede- gattung die Verbindungsformeln beſtimmt ſind, um deſto we- niger braucht man erſt nach dem Inhalt der Saͤze zu fragen, und umgekehrt je klarer der Zuſammenhang iſt, deſto weniger kommt auf eine Anomalie im Gebrauch der Verbindungsformeln an. 3. In loſen Formen aber wie die neuteſtam. uͤberhaupt ſind iſt es ſchwierig, Haupt- und Nebengedanke aus dem Sprachgebiet zu unterſcheiden, weil dieſer Gegenſaz ſelbſt nicht ſtark geſpannt iſt ſondern beim leichten Wechſel der Materie eins in das andere uͤbergeht. Dann muß das andere zu Huͤlfe kommen, und indem man das Verhaͤltniß eines Sazes zu ei- nem andern erkennt muß man vermittelſt deſſelben auch das zum Ganzen finden. Zuſaz: Hieraus iſt auch die unrichtige Klaſſification dog- matiſcher Stellen zu erklaͤren, welche eigentlich auf der Maxime beruht, daß in den neuteſt. Schriften alles dogmatiſche gleich muͤſſe Hauptgedanke werden. Dieſe Maxime iſt aber unhaltbar. Schlußbemerkung. Die zulezt behandelten Gegenſtaͤnde haben uns am meiſten auf die techniſche Interpretation hingewieſen. Nicht als ob die Maxime daß eigentlich jede Seite fuͤr ſich hinreichen muͤſſe an ſich unrecht waͤre; aber ſie ſezt eine ſo vollkommene Sprachkenntniß voraus, wie ohne vollendete Auslegung nicht moͤglich iſt. Da nun wenn Sprachkenntniß mangelt ich zwar die Sprach- kenntniß Anderer zu Huͤlfe nehmen muß, aber dieſe ſelbſt nur mit einer mangelhaften Sprachkenntniß benuzen kann: ſo muß in jedem ſolchen Falle die techniſche Auslegung Ergaͤnzung ſein. Und eben ſo umgekehrt kann ich die Kenntniß Anderer vom Ver- faſſer nur mittelſt meiner mangelhaften Kenntniß von ihnen ſelbſt benuzen, alſo muß mir die grammatiſche Auslegung zur Ergaͤn- zung dienen.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/114>, abgerufen am 20.04.2024.