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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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nie verschwand, und sie Rede und Schrift nur nach den ge-
wöhnlichen Voraussezungen beurtheilen konnten, auch die Aus-
flucht, daß der heilige Geist die ganze inspirationsgläubige Chri-
stenheit, welche ihn nur nach der aufgestellten Maxime beur-
theilen darf, im Auge gehabt, nichts hilft, indem diese Chri-
stenheit nur durch das richtige Verständniß, welches sich den
ersten Christen mittheilte, entstehen konnte, so ist diese Maxime
schlechthin verwerflich.

3. Indem nun die Wahrheit in der Mitte liegt, läßt sich
keine andere Regel der Beurtheilung angeben, als daß man
beide Abweichungen immer im Auge habe, und sich frage, welche
mit der wenigsten Unnatur könnte angewendet werden. Be-
sonders kommt hier zur Sprache das Urgiren bildlicher Aus-
drücke, indem emphatisch betrachtet jede Metapher ein Compen-
dium eines Gleichnisses ist, und ebenso kann man auch ein
Gleichniß selbst emphatisiren. Auch dieß muß lediglich nach den
aufgestellten Regeln beurtheilt werden, ob das was man noch
in einem Gleichniß will auch in demselben Gebiet liegt, worin
das Gleichniß spielt. Denn sonst bekommt man doch nur An-
wendungen und Einlegungen. Auf der andern Seite muß
man aber auch bedenken wie nahe die Metapher der Phrasis
liege. Denn in demselben Maaß ist keine Emphasis zu erwar-
ten. Am meisten dominirt die Emphasis im streng dialektischen
Vortrage und im wizigen.

43. Das Maaß in welchem abundirendes oder em-
phatisches vorauszusezen ist hängt nicht nur von der Gat-
tung der Rede ab, sondern auch von der Entwicklungsstufe
des Gegenstandes.

Wenn ein Gegenstand für das Gebiet der Vorstellung schon
gehörig bearbeitet ist, dann kann man von dem mittleren Durch-
schnitt ausgehen, und es hängt nur von der Redegattung ab,
wann oder wo man mehr Emphase oder Abundanz zu erwar-

nie verſchwand, und ſie Rede und Schrift nur nach den ge-
woͤhnlichen Vorausſezungen beurtheilen konnten, auch die Aus-
flucht, daß der heilige Geiſt die ganze inſpirationsglaͤubige Chri-
ſtenheit, welche ihn nur nach der aufgeſtellten Maxime beur-
theilen darf, im Auge gehabt, nichts hilft, indem dieſe Chri-
ſtenheit nur durch das richtige Verſtaͤndniß, welches ſich den
erſten Chriſten mittheilte, entſtehen konnte, ſo iſt dieſe Maxime
ſchlechthin verwerflich.

3. Indem nun die Wahrheit in der Mitte liegt, laͤßt ſich
keine andere Regel der Beurtheilung angeben, als daß man
beide Abweichungen immer im Auge habe, und ſich frage, welche
mit der wenigſten Unnatur koͤnnte angewendet werden. Be-
ſonders kommt hier zur Sprache das Urgiren bildlicher Aus-
druͤcke, indem emphatiſch betrachtet jede Metapher ein Compen-
dium eines Gleichniſſes iſt, und ebenſo kann man auch ein
Gleichniß ſelbſt emphatiſiren. Auch dieß muß lediglich nach den
aufgeſtellten Regeln beurtheilt werden, ob das was man noch
in einem Gleichniß will auch in demſelben Gebiet liegt, worin
das Gleichniß ſpielt. Denn ſonſt bekommt man doch nur An-
wendungen und Einlegungen. Auf der andern Seite muß
man aber auch bedenken wie nahe die Metapher der Phraſis
liege. Denn in demſelben Maaß iſt keine Emphaſis zu erwar-
ten. Am meiſten dominirt die Emphaſis im ſtreng dialektiſchen
Vortrage und im wizigen.

43. Das Maaß in welchem abundirendes oder em-
phatiſches vorauszuſezen iſt haͤngt nicht nur von der Gat-
tung der Rede ab, ſondern auch von der Entwicklungsſtufe
des Gegenſtandes.

Wenn ein Gegenſtand fuͤr das Gebiet der Vorſtellung ſchon
gehoͤrig bearbeitet iſt, dann kann man von dem mittleren Durch-
ſchnitt ausgehen, und es haͤngt nur von der Redegattung ab,
wann oder wo man mehr Emphaſe oder Abundanz zu erwar-

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[88/0112] nie verſchwand, und ſie Rede und Schrift nur nach den ge- woͤhnlichen Vorausſezungen beurtheilen konnten, auch die Aus- flucht, daß der heilige Geiſt die ganze inſpirationsglaͤubige Chri- ſtenheit, welche ihn nur nach der aufgeſtellten Maxime beur- theilen darf, im Auge gehabt, nichts hilft, indem dieſe Chri- ſtenheit nur durch das richtige Verſtaͤndniß, welches ſich den erſten Chriſten mittheilte, entſtehen konnte, ſo iſt dieſe Maxime ſchlechthin verwerflich. 3. Indem nun die Wahrheit in der Mitte liegt, laͤßt ſich keine andere Regel der Beurtheilung angeben, als daß man beide Abweichungen immer im Auge habe, und ſich frage, welche mit der wenigſten Unnatur koͤnnte angewendet werden. Be- ſonders kommt hier zur Sprache das Urgiren bildlicher Aus- druͤcke, indem emphatiſch betrachtet jede Metapher ein Compen- dium eines Gleichniſſes iſt, und ebenſo kann man auch ein Gleichniß ſelbſt emphatiſiren. Auch dieß muß lediglich nach den aufgeſtellten Regeln beurtheilt werden, ob das was man noch in einem Gleichniß will auch in demſelben Gebiet liegt, worin das Gleichniß ſpielt. Denn ſonſt bekommt man doch nur An- wendungen und Einlegungen. Auf der andern Seite muß man aber auch bedenken wie nahe die Metapher der Phraſis liege. Denn in demſelben Maaß iſt keine Emphaſis zu erwar- ten. Am meiſten dominirt die Emphaſis im ſtreng dialektiſchen Vortrage und im wizigen. 43. Das Maaß in welchem abundirendes oder em- phatiſches vorauszuſezen iſt haͤngt nicht nur von der Gat- tung der Rede ab, ſondern auch von der Entwicklungsſtufe des Gegenſtandes. Wenn ein Gegenſtand fuͤr das Gebiet der Vorſtellung ſchon gehoͤrig bearbeitet iſt, dann kann man von dem mittleren Durch- ſchnitt ausgehen, und es haͤngt nur von der Redegattung ab, wann oder wo man mehr Emphaſe oder Abundanz zu erwar-

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/112>, abgerufen am 29.03.2024.