Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Eigentlich muß alles in den Lexicis unter bestimmten Bedeu-
tungen als Auctorität angeführte eine Sammlung von Parallel-
stellen sein.

Die 1) Sprachkenntniß entsteht durch hermeneutische Operationen.
Das erste ist möglich vollständige Indices über die einzelnen
Schriftsteller, also -- Gebrauch der Parallelen. Daraus erhalten
wir denn Indices für die Sprache, für bestimmte Gebiete, für
das philosophische, rhetorische, mathematische Gebiete u. s. w. Hier-
bei kommt vorzüglich darauf an, diejenigen Ausdrücke welche am
meisten in Hauptstellen vorkommen, die solennen Ausdrücke jedes
Gegenstandes und ihr Verfließen in den allgemeinen Sprachge-
brauch im Zusammenhange darzustellen. So entsteht das wahre
Wörterbuch aus beiden Operationen; es muß für jedes Wort den
Hauptsitz angeben und von da aus die Verbreitung des Gebrauchs
in Anwendung auf verwandte Gebiete darstellen, so viel möglich
historisch, chronologisch. Wie nun dabei nothwendig ist der Ge-
brauch der Parallelen, oft im weitesten Sinne, so daß man auf
verwandte Sprachen, auf die Stammsprache vergleichend über-
geht, so ist auch die Auslegung immer an den Gebrauch der Pa-
rallelen im engeren und weiteren Sinne gewiesen. Die Sprach-
kenntniß, die die Auslegung voraussezt, ist immer noch unvoll-
kommen. Sie reicht nur aus, die kunstmäßige Auslegung zu be-
ginnen. Aber eben deshalb muß die künstlerische grammatische
Auslegung wieder zurückwirken auf die Erweiterung und Vollen-
dung der Sprachkenntniß.

36. Hiedurch (35.) wird die alte Regel, wenn sich
noch Spuren in der Schrift selbst finden, die Erklärungs-
mittel nicht außerhalb derselben zu suchen, gar sehr beschränkt.

1. Denn wenn nun doch Worte in gleicher Bedeutung
außerhalb vorkommen, so würde man solche Stellen doch ins

1) Aus der Vorles. v. 1826.

Eigentlich muß alles in den Lexicis unter beſtimmten Bedeu-
tungen als Auctoritaͤt angefuͤhrte eine Sammlung von Parallel-
ſtellen ſein.

Die 1) Sprachkenntniß entſteht durch hermeneutiſche Operationen.
Das erſte iſt moͤglich vollſtaͤndige Indices uͤber die einzelnen
Schriftſteller, alſo — Gebrauch der Parallelen. Daraus erhalten
wir denn Indices fuͤr die Sprache, fuͤr beſtimmte Gebiete, fuͤr
das philoſophiſche, rhetoriſche, mathematiſche Gebiete u. ſ. w. Hier-
bei kommt vorzuͤglich darauf an, diejenigen Ausdruͤcke welche am
meiſten in Hauptſtellen vorkommen, die ſolennen Ausdruͤcke jedes
Gegenſtandes und ihr Verfließen in den allgemeinen Sprachge-
brauch im Zuſammenhange darzuſtellen. So entſteht das wahre
Woͤrterbuch aus beiden Operationen; es muß fuͤr jedes Wort den
Hauptſitz angeben und von da aus die Verbreitung des Gebrauchs
in Anwendung auf verwandte Gebiete darſtellen, ſo viel moͤglich
hiſtoriſch, chronologiſch. Wie nun dabei nothwendig iſt der Ge-
brauch der Parallelen, oft im weiteſten Sinne, ſo daß man auf
verwandte Sprachen, auf die Stammſprache vergleichend uͤber-
geht, ſo iſt auch die Auslegung immer an den Gebrauch der Pa-
rallelen im engeren und weiteren Sinne gewieſen. Die Sprach-
kenntniß, die die Auslegung vorausſezt, iſt immer noch unvoll-
kommen. Sie reicht nur aus, die kunſtmaͤßige Auslegung zu be-
ginnen. Aber eben deshalb muß die kuͤnſtleriſche grammatiſche
Auslegung wieder zuruͤckwirken auf die Erweiterung und Vollen-
dung der Sprachkenntniß.

36. Hiedurch (35.) wird die alte Regel, wenn ſich
noch Spuren in der Schrift ſelbſt finden, die Erklaͤrungs-
mittel nicht außerhalb derſelben zu ſuchen, gar ſehr beſchraͤnkt.

1. Denn wenn nun doch Worte in gleicher Bedeutung
außerhalb vorkommen, ſo wuͤrde man ſolche Stellen doch ins

1) Aus der Vorleſ. v. 1826.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0108" n="84"/>
            <p>Eigentlich muß alles in den Lexicis unter be&#x017F;timmten Bedeu-<lb/>
tungen als Auctorita&#x0364;t angefu&#x0364;hrte eine Sammlung von Parallel-<lb/>
&#x017F;tellen &#x017F;ein.</p><lb/>
            <p>Die <note place="foot" n="1)">Aus der Vorle&#x017F;. v. 1826.</note> Sprachkenntniß ent&#x017F;teht durch hermeneuti&#x017F;che Operationen.<lb/>
Das er&#x017F;te i&#x017F;t mo&#x0364;glich voll&#x017F;ta&#x0364;ndige Indices u&#x0364;ber die einzelnen<lb/>
Schrift&#x017F;teller, al&#x017F;o &#x2014; Gebrauch der Parallelen. Daraus erhalten<lb/>
wir denn Indices fu&#x0364;r die Sprache, fu&#x0364;r be&#x017F;timmte Gebiete, fu&#x0364;r<lb/>
das philo&#x017F;ophi&#x017F;che, rhetori&#x017F;che, mathemati&#x017F;che Gebiete u. &#x017F;. w. Hier-<lb/>
bei kommt vorzu&#x0364;glich darauf an, diejenigen Ausdru&#x0364;cke welche am<lb/>
mei&#x017F;ten in Haupt&#x017F;tellen vorkommen, die &#x017F;olennen Ausdru&#x0364;cke jedes<lb/>
Gegen&#x017F;tandes und ihr Verfließen in den allgemeinen Sprachge-<lb/>
brauch im Zu&#x017F;ammenhange darzu&#x017F;tellen. So ent&#x017F;teht das wahre<lb/>
Wo&#x0364;rterbuch aus beiden Operationen; es muß fu&#x0364;r jedes Wort den<lb/>
Haupt&#x017F;itz angeben und von da aus die Verbreitung des Gebrauchs<lb/>
in Anwendung auf verwandte Gebiete dar&#x017F;tellen, &#x017F;o viel mo&#x0364;glich<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;ch, chronologi&#x017F;ch. Wie nun dabei nothwendig i&#x017F;t der Ge-<lb/>
brauch der Parallelen, oft im weite&#x017F;ten Sinne, &#x017F;o daß man auf<lb/>
verwandte Sprachen, auf die Stamm&#x017F;prache vergleichend u&#x0364;ber-<lb/>
geht, &#x017F;o i&#x017F;t auch die Auslegung immer an den Gebrauch der Pa-<lb/>
rallelen im engeren und weiteren Sinne gewie&#x017F;en. Die Sprach-<lb/>
kenntniß, die die Auslegung voraus&#x017F;ezt, i&#x017F;t immer noch unvoll-<lb/>
kommen. Sie reicht nur aus, die kun&#x017F;tma&#x0364;ßige Auslegung zu be-<lb/>
ginnen. Aber eben deshalb muß die ku&#x0364;n&#x017F;tleri&#x017F;che grammati&#x017F;che<lb/>
Auslegung wieder zuru&#x0364;ckwirken auf die Erweiterung und Vollen-<lb/>
dung der Sprachkenntniß.</p><lb/>
            <p>36. Hiedurch (35.) wird die alte Regel, wenn &#x017F;ich<lb/>
noch Spuren in der Schrift &#x017F;elb&#x017F;t finden, die Erkla&#x0364;rungs-<lb/>
mittel nicht außerhalb der&#x017F;elben zu &#x017F;uchen, gar &#x017F;ehr be&#x017F;chra&#x0364;nkt.</p><lb/>
            <p>1. Denn wenn nun doch Worte in gleicher Bedeutung<lb/>
außerhalb vorkommen, &#x017F;o wu&#x0364;rde man &#x017F;olche Stellen doch ins<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[84/0108] Eigentlich muß alles in den Lexicis unter beſtimmten Bedeu- tungen als Auctoritaͤt angefuͤhrte eine Sammlung von Parallel- ſtellen ſein. Die 1) Sprachkenntniß entſteht durch hermeneutiſche Operationen. Das erſte iſt moͤglich vollſtaͤndige Indices uͤber die einzelnen Schriftſteller, alſo — Gebrauch der Parallelen. Daraus erhalten wir denn Indices fuͤr die Sprache, fuͤr beſtimmte Gebiete, fuͤr das philoſophiſche, rhetoriſche, mathematiſche Gebiete u. ſ. w. Hier- bei kommt vorzuͤglich darauf an, diejenigen Ausdruͤcke welche am meiſten in Hauptſtellen vorkommen, die ſolennen Ausdruͤcke jedes Gegenſtandes und ihr Verfließen in den allgemeinen Sprachge- brauch im Zuſammenhange darzuſtellen. So entſteht das wahre Woͤrterbuch aus beiden Operationen; es muß fuͤr jedes Wort den Hauptſitz angeben und von da aus die Verbreitung des Gebrauchs in Anwendung auf verwandte Gebiete darſtellen, ſo viel moͤglich hiſtoriſch, chronologiſch. Wie nun dabei nothwendig iſt der Ge- brauch der Parallelen, oft im weiteſten Sinne, ſo daß man auf verwandte Sprachen, auf die Stammſprache vergleichend uͤber- geht, ſo iſt auch die Auslegung immer an den Gebrauch der Pa- rallelen im engeren und weiteren Sinne gewieſen. Die Sprach- kenntniß, die die Auslegung vorausſezt, iſt immer noch unvoll- kommen. Sie reicht nur aus, die kunſtmaͤßige Auslegung zu be- ginnen. Aber eben deshalb muß die kuͤnſtleriſche grammatiſche Auslegung wieder zuruͤckwirken auf die Erweiterung und Vollen- dung der Sprachkenntniß. 36. Hiedurch (35.) wird die alte Regel, wenn ſich noch Spuren in der Schrift ſelbſt finden, die Erklaͤrungs- mittel nicht außerhalb derſelben zu ſuchen, gar ſehr beſchraͤnkt. 1. Denn wenn nun doch Worte in gleicher Bedeutung außerhalb vorkommen, ſo wuͤrde man ſolche Stellen doch ins 1) Aus der Vorleſ. v. 1826.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/108
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/108>, abgerufen am 18.04.2024.