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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Zweite Vorlesung.
Entstehung und Feststellung mit in die Schöpfungsgeschichte verfloch¬
ten. Der Schöpfungsgedanke gehört aber dem Glauben an, die zeit¬
liche Entwicklung und Veränderung des Geschaffenen, d. h. des in
Zeit und Raum Eingetretenen, ist dagegen Aufgabe der Wissenschaft.
Sobald nun die Geognosie die großen Verschiedenheiten der Geschöpfe
in den verschiedenen sich folgenden Perioden der Erdbildung dargelegt
und das Vorurtheil abgeworfen hatte, daß ein engbegrenzter Zeitraum
die Entwicklungsgeschichte der Erde umschließe, so war auch die Ansicht
von der Constanz der Arten als ein Irrthum nachgewiesen, an den fer¬
ner nur noch Unwissenheit oder große Beschränktheit glauben kann. Es
bedurfte keiner Ausnahme mehr vom allgemeinen Bildungsgesetz der
Begriffe für den Artbegriff und die allein richtige Bestimmung dessel¬
ben ist gegenwärtig die von Agassiz gegebene: "Zu einer Art gehört
Alles, was sich durch Merkmale charakterisirt, die dem Menschen für
eine gewisse längere Zeit als unveränderlich erscheinen".

Die Ansicht, daß die Arten nichts Feststehendes, sondern etwas in
der Zeit Veränderliches seien, das die einen aussterben, während sich
andere aus ihnen entwickelt haben, ist durchaus nicht neu; vielmehr
trat sie sogleich hervor, als richtigere geologische Erkenntniß am Ende
des vorigen Jahrhunderts von dem Bann einer mißverstandenen Schö¬
pfungsgeschichte und Zeitrechnung befreite. Zuerst scheint der ältere
Darwin (der Großvater des jetzt lebenden Geognosten) 1794 und
Geoffroy St. Hilaire 1795 jene Ansicht aufgestellt zu haben. Erst
1809 durch Lamarck und 1828 durch die heftigen Kämpfe G. St. Hi¬
laires
gegen Cuvier in der Pariser Akademie wurde der Angelegen¬
heit eine etwas allgemeinere Theilnahme zugewendet. Daß die besseren
Ansichten noch nicht durchdrangen, lag theils in fortwirkenden alten
Vorurtheilen, theils darin, daß jene Männer den richtigen Ausdruck
für den Vorgang der Umänderung der Arten noch nicht hatten finden
können. Auch spätere Entdeckungen, z. B. die Anerkennung natürlicher
Bastarderzeugungen, der Steenstrup'sche Generationswechsel u. s. w.
halfen hier nicht, da man sich nicht verhehlen konnte, daß diese Verhält¬

Zweite Vorleſung.
Entſtehung und Feſtſtellung mit in die Schöpfungsgeſchichte verfloch¬
ten. Der Schöpfungsgedanke gehört aber dem Glauben an, die zeit¬
liche Entwicklung und Veränderung des Geſchaffenen, d. h. des in
Zeit und Raum Eingetretenen, iſt dagegen Aufgabe der Wiſſenſchaft.
Sobald nun die Geognoſie die großen Verſchiedenheiten der Geſchöpfe
in den verſchiedenen ſich folgenden Perioden der Erdbildung dargelegt
und das Vorurtheil abgeworfen hatte, daß ein engbegrenzter Zeitraum
die Entwicklungsgeſchichte der Erde umſchließe, ſo war auch die Anſicht
von der Conſtanz der Arten als ein Irrthum nachgewieſen, an den fer¬
ner nur noch Unwiſſenheit oder große Beſchränktheit glauben kann. Es
bedurfte keiner Ausnahme mehr vom allgemeinen Bildungsgeſetz der
Begriffe für den Artbegriff und die allein richtige Beſtimmung deſſel¬
ben iſt gegenwärtig die von Agaſſiz gegebene: „Zu einer Art gehört
Alles, was ſich durch Merkmale charakteriſirt, die dem Menſchen für
eine gewiſſe längere Zeit als unveränderlich erſcheinen“.

Die Anſicht, daß die Arten nichts Feſtſtehendes, ſondern etwas in
der Zeit Veränderliches ſeien, das die einen ausſterben, während ſich
andere aus ihnen entwickelt haben, iſt durchaus nicht neu; vielmehr
trat ſie ſogleich hervor, als richtigere geologiſche Erkenntniß am Ende
des vorigen Jahrhunderts von dem Bann einer mißverſtandenen Schö¬
pfungsgeſchichte und Zeitrechnung befreite. Zuerſt ſcheint der ältere
Darwin (der Großvater des jetzt lebenden Geognoſten) 1794 und
Geoffroy St. Hilaire 1795 jene Anſicht aufgeſtellt zu haben. Erſt
1809 durch Lamarck und 1828 durch die heftigen Kämpfe G. St. Hi¬
laires
gegen Cuvier in der Pariſer Akademie wurde der Angelegen¬
heit eine etwas allgemeinere Theilnahme zugewendet. Daß die beſſeren
Anſichten noch nicht durchdrangen, lag theils in fortwirkenden alten
Vorurtheilen, theils darin, daß jene Männer den richtigen Ausdruck
für den Vorgang der Umänderung der Arten noch nicht hatten finden
können. Auch ſpätere Entdeckungen, z. B. die Anerkennung natürlicher
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[38/0048] Zweite Vorleſung. Entſtehung und Feſtſtellung mit in die Schöpfungsgeſchichte verfloch¬ ten. Der Schöpfungsgedanke gehört aber dem Glauben an, die zeit¬ liche Entwicklung und Veränderung des Geſchaffenen, d. h. des in Zeit und Raum Eingetretenen, iſt dagegen Aufgabe der Wiſſenſchaft. Sobald nun die Geognoſie die großen Verſchiedenheiten der Geſchöpfe in den verſchiedenen ſich folgenden Perioden der Erdbildung dargelegt und das Vorurtheil abgeworfen hatte, daß ein engbegrenzter Zeitraum die Entwicklungsgeſchichte der Erde umſchließe, ſo war auch die Anſicht von der Conſtanz der Arten als ein Irrthum nachgewieſen, an den fer¬ ner nur noch Unwiſſenheit oder große Beſchränktheit glauben kann. Es bedurfte keiner Ausnahme mehr vom allgemeinen Bildungsgeſetz der Begriffe für den Artbegriff und die allein richtige Beſtimmung deſſel¬ ben iſt gegenwärtig die von Agaſſiz gegebene: „Zu einer Art gehört Alles, was ſich durch Merkmale charakteriſirt, die dem Menſchen für eine gewiſſe längere Zeit als unveränderlich erſcheinen“. Die Anſicht, daß die Arten nichts Feſtſtehendes, ſondern etwas in der Zeit Veränderliches ſeien, das die einen ausſterben, während ſich andere aus ihnen entwickelt haben, iſt durchaus nicht neu; vielmehr trat ſie ſogleich hervor, als richtigere geologiſche Erkenntniß am Ende des vorigen Jahrhunderts von dem Bann einer mißverſtandenen Schö¬ pfungsgeſchichte und Zeitrechnung befreite. Zuerſt ſcheint der ältere Darwin (der Großvater des jetzt lebenden Geognoſten) 1794 und Geoffroy St. Hilaire 1795 jene Anſicht aufgeſtellt zu haben. Erſt 1809 durch Lamarck und 1828 durch die heftigen Kämpfe G. St. Hi¬ laires gegen Cuvier in der Pariſer Akademie wurde der Angelegen¬ heit eine etwas allgemeinere Theilnahme zugewendet. Daß die beſſeren Anſichten noch nicht durchdrangen, lag theils in fortwirkenden alten Vorurtheilen, theils darin, daß jene Männer den richtigen Ausdruck für den Vorgang der Umänderung der Arten noch nicht hatten finden können. Auch ſpätere Entdeckungen, z. B. die Anerkennung natürlicher Baſtarderzeugungen, der Steenſtrup'ſche Generationswechſel u. ſ. w. halfen hier nicht, da man ſich nicht verhehlen konnte, daß dieſe Verhält¬

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/48>, abgerufen am 29.03.2024.