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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Zweite Vorlesung.
Nominalismus nicht ganz und mit einem Male geschehen konnte, oder
ohne die Schulausdrücke, daß der Mensch nicht plötzlich zu der Einsicht
kam, daß alle Begriffe nur an sich leere und unwirkliche Zusammenfas¬
sungen derjenigen Merkmale sind, die übrig bleiben, wenn man von
den sämmtlichen Merkmalen, die sich an den einzelnen wirklichen Din¬
gen finden und wodurch sich jedes einzelne derselben von einer gewissen
Anzahl anderer ähnlicher Dinge unterscheidet, absieht (abstrahirt) und
daß daher diese Abstraction, d. h. der Begriff, seiner Natur nach noth¬
wendig veränderlich ist, sowie sich die Anzahl der Dinge ändert, die wir
unter einen Begriff zusammenfassen wollen, oder sowie wir diese Dinge
genauer kennen, ihre Merkmale schärfer fassen und unterscheiden ler¬
nen*). Wenn auch wie gesagt der Realismus als ganze die Philoso¬
phie beherrschende Lehre gestürzt wurde, so blieben doch einzelne Regio¬
nen, gleichsam einzelne Winkel der Seele zurück, in denen er, weil
unbeargwohnt, auch ungestört seine Herrschaft behauptete. So hielten
denn selbst unsere größten und klarsten Denker, Kant, Fries und
Apelt, welche die Philosophie gerade im ächten Geiste der Naturwis¬
senschaft reformirten, das Vorurtheil fest, daß die Unwesenhaftigkeit des
Begriffs, die sie auf allen Gebieten behaupteten, doch nicht in der Na¬
tur stattfinde, daß hier vielmehr dem Artbegriff eine objective, reale
Bedeutung zukomme und somit einen der subjectiven veränderlichen Auf¬
fassung unzugänglichen, andauernden Werth beanspruchen dürfe. Sie
versuchten mit vielem Scharfsinn, aber doch nicht sehr glücklich, ein
halb metaphysisches Naturgesetz zu construiren, welches sie das Gesetz
der Specifikation nannten, wonach der subjectiven Begriffsbildung
ein objectives Verhältniß in der Natur entgegenkommen sollte, so daß
dem vom menschlichen Verstande gebildeten Begriffe einer bestimmten
Art, z. B. dem Begriffe des "Pferdes", auch in der Natur etwas ganz
Feststehendes und real Vorhandenes als Pferd entspreche. Daß dies

*) Es versteht sich, daß das hier Gesagte seine Anwendung eben so findet,
wenn wir aus der Zusammenfassung einer gewissen Anzahl von Begriffen einen Be¬
griff nächsthöherer Ordnung bilden. --

Zweite Vorleſung.
Nominalismus nicht ganz und mit einem Male geſchehen konnte, oder
ohne die Schulausdrücke, daß der Menſch nicht plötzlich zu der Einſicht
kam, daß alle Begriffe nur an ſich leere und unwirkliche Zuſammenfaſ¬
ſungen derjenigen Merkmale ſind, die übrig bleiben, wenn man von
den ſämmtlichen Merkmalen, die ſich an den einzelnen wirklichen Din¬
gen finden und wodurch ſich jedes einzelne derſelben von einer gewiſſen
Anzahl anderer ähnlicher Dinge unterſcheidet, abſieht (abſtrahirt) und
daß daher dieſe Abſtraction, d. h. der Begriff, ſeiner Natur nach noth¬
wendig veränderlich iſt, ſowie ſich die Anzahl der Dinge ändert, die wir
unter einen Begriff zuſammenfaſſen wollen, oder ſowie wir dieſe Dinge
genauer kennen, ihre Merkmale ſchärfer faſſen und unterſcheiden ler¬
nen*). Wenn auch wie geſagt der Realismus als ganze die Philoſo¬
phie beherrſchende Lehre geſtürzt wurde, ſo blieben doch einzelne Regio¬
nen, gleichſam einzelne Winkel der Seele zurück, in denen er, weil
unbeargwohnt, auch ungeſtört ſeine Herrſchaft behauptete. So hielten
denn ſelbſt unſere größten und klarſten Denker, Kant, Fries und
Apelt, welche die Philoſophie gerade im ächten Geiſte der Naturwiſ¬
ſenſchaft reformirten, das Vorurtheil feſt, daß die Unweſenhaftigkeit des
Begriffs, die ſie auf allen Gebieten behaupteten, doch nicht in der Na¬
tur ſtattfinde, daß hier vielmehr dem Artbegriff eine objective, reale
Bedeutung zukomme und ſomit einen der ſubjectiven veränderlichen Auf¬
faſſung unzugänglichen, andauernden Werth beanſpruchen dürfe. Sie
verſuchten mit vielem Scharfſinn, aber doch nicht ſehr glücklich, ein
halb metaphyſiſches Naturgeſetz zu conſtruiren, welches ſie das Geſetz
der Specifikation nannten, wonach der ſubjectiven Begriffsbildung
ein objectives Verhältniß in der Natur entgegenkommen ſollte, ſo daß
dem vom menſchlichen Verſtande gebildeten Begriffe einer beſtimmten
Art, z. B. dem Begriffe des „Pferdes“, auch in der Natur etwas ganz
Feſtſtehendes und real Vorhandenes als Pferd entſpreche. Daß dies

*) Es verſteht ſich, daß das hier Geſagte ſeine Anwendung eben ſo findet,
wenn wir aus der Zuſammenfaſſung einer gewiſſen Anzahl von Begriffen einen Be¬
griff nächſthöherer Ordnung bilden. —
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[36/0046] Zweite Vorleſung. Nominalismus nicht ganz und mit einem Male geſchehen konnte, oder ohne die Schulausdrücke, daß der Menſch nicht plötzlich zu der Einſicht kam, daß alle Begriffe nur an ſich leere und unwirkliche Zuſammenfaſ¬ ſungen derjenigen Merkmale ſind, die übrig bleiben, wenn man von den ſämmtlichen Merkmalen, die ſich an den einzelnen wirklichen Din¬ gen finden und wodurch ſich jedes einzelne derſelben von einer gewiſſen Anzahl anderer ähnlicher Dinge unterſcheidet, abſieht (abſtrahirt) und daß daher dieſe Abſtraction, d. h. der Begriff, ſeiner Natur nach noth¬ wendig veränderlich iſt, ſowie ſich die Anzahl der Dinge ändert, die wir unter einen Begriff zuſammenfaſſen wollen, oder ſowie wir dieſe Dinge genauer kennen, ihre Merkmale ſchärfer faſſen und unterſcheiden ler¬ nen *). Wenn auch wie geſagt der Realismus als ganze die Philoſo¬ phie beherrſchende Lehre geſtürzt wurde, ſo blieben doch einzelne Regio¬ nen, gleichſam einzelne Winkel der Seele zurück, in denen er, weil unbeargwohnt, auch ungeſtört ſeine Herrſchaft behauptete. So hielten denn ſelbſt unſere größten und klarſten Denker, Kant, Fries und Apelt, welche die Philoſophie gerade im ächten Geiſte der Naturwiſ¬ ſenſchaft reformirten, das Vorurtheil feſt, daß die Unweſenhaftigkeit des Begriffs, die ſie auf allen Gebieten behaupteten, doch nicht in der Na¬ tur ſtattfinde, daß hier vielmehr dem Artbegriff eine objective, reale Bedeutung zukomme und ſomit einen der ſubjectiven veränderlichen Auf¬ faſſung unzugänglichen, andauernden Werth beanſpruchen dürfe. Sie verſuchten mit vielem Scharfſinn, aber doch nicht ſehr glücklich, ein halb metaphyſiſches Naturgeſetz zu conſtruiren, welches ſie das Geſetz der Specifikation nannten, wonach der ſubjectiven Begriffsbildung ein objectives Verhältniß in der Natur entgegenkommen ſollte, ſo daß dem vom menſchlichen Verſtande gebildeten Begriffe einer beſtimmten Art, z. B. dem Begriffe des „Pferdes“, auch in der Natur etwas ganz Feſtſtehendes und real Vorhandenes als Pferd entſpreche. Daß dies *) Es verſteht ſich, daß das hier Geſagte ſeine Anwendung eben ſo findet, wenn wir aus der Zuſammenfaſſung einer gewiſſen Anzahl von Begriffen einen Be¬ griff nächſthöherer Ordnung bilden. —

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/46>, abgerufen am 29.03.2024.