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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Ueber die Entstehung der Arten.
bestimmte, gleich, aber keineswegs in allen; denn bei der frühen mehr
oder weniger vollkommenen Selbständigkeit des neuen Individuums
haben auch schon andere Einflüsse unabhängig vom mütterlichen Orga¬
nismus auf dasselbe bestimmend eingewirkt und diese Einflüsse werden
das neue Individuum um so mehr abändern, je eingreifender und an¬
dauernder sie einwirken.

Wenn irgend ein lebendes Individuum wesentlich verschiedenen
äußeren Lebensverhältnissen ausgesetzt wird, so kann es doch, voraus¬
gesetzt, daß es dabei überall seine Existenz erhalten kann, an sich selbst
nur wenige und unbedeutende Abänderungen erleiden. Daß aber diese
äußeren Verhältnisse von tief eingreifender Wirkung gewesen sind, zeigt
sich in der Nachkommenschaft, indem diese in auffallenderer und man¬
nichfaltigerer Weise von dem ganzen Typus des ersten Individuums
abweicht als geschehen sein würde, wenn jene äußeren Verhältnisse
nicht eingewirkt hätten, so daß ihr Einfluß eben erst durch die Nach¬
kommenschaft, hier aber auch sehr schlagend in die Erscheinung tritt.
Wir kennen dieses Gesetz am vollkommensten bei den Pflanzen; ver¬
setzen wir eine wild wachsende Pflanze in den üppig gedüngten Boden
unserer Gärten, so wird sie außer kräftigerem Wuchs im Allgemeinen
und etwa gewissen Verfärbungen der Blätter selten irgend eine Verän¬
derung wahrnehmen lassen, aber die aus ihren Samen erzogenen Indi¬
viduen zeigen die mannichfachsten und oft auffallendsten Abweichungen
von dem Charakter der Stammpflanze. Es bilden sich sogleich zahl¬
reiche und oft sehr merkwürdige Spielarten, die fast regelmäßig um so
mehr abweichen, je länger wir die Samenzucht durch mehrere Genera¬
tionen fortsetzen. Auf diese Weise sind z. B. alle die verschiedenartigen
Gartenpflanzen entstanden, die wir als Kohlarten zusammenfassen und
die als Wirsing und Weißkraut, als Winter- und Blumen-Kohl, als
Kohlrübe und Kohlrabi kaum noch irgend eine Aehnlichkeit unter ein¬
ander und mit dem wilden Kohl auf den Nordseedünen und den Hel¬
golander Felsen zeigen. Derselbe Vorgang zeigt sich auch bei den Thie¬
ren, wenn auch augenblicklich in weniger auffallenden Zügen. Was

Ueber die Entſtehung der Arten.
beſtimmte, gleich, aber keineswegs in allen; denn bei der frühen mehr
oder weniger vollkommenen Selbſtändigkeit des neuen Individuums
haben auch ſchon andere Einflüſſe unabhängig vom mütterlichen Orga¬
nismus auf daſſelbe beſtimmend eingewirkt und dieſe Einflüſſe werden
das neue Individuum um ſo mehr abändern, je eingreifender und an¬
dauernder ſie einwirken.

Wenn irgend ein lebendes Individuum weſentlich verſchiedenen
äußeren Lebensverhältniſſen ausgeſetzt wird, ſo kann es doch, voraus¬
geſetzt, daß es dabei überall ſeine Exiſtenz erhalten kann, an ſich ſelbſt
nur wenige und unbedeutende Abänderungen erleiden. Daß aber dieſe
äußeren Verhältniſſe von tief eingreifender Wirkung geweſen ſind, zeigt
ſich in der Nachkommenſchaft, indem dieſe in auffallenderer und man¬
nichfaltigerer Weiſe von dem ganzen Typus des erſten Individuums
abweicht als geſchehen ſein würde, wenn jene äußeren Verhältniſſe
nicht eingewirkt hätten, ſo daß ihr Einfluß eben erſt durch die Nach¬
kommenſchaft, hier aber auch ſehr ſchlagend in die Erſcheinung tritt.
Wir kennen dieſes Geſetz am vollkommenſten bei den Pflanzen; ver¬
ſetzen wir eine wild wachſende Pflanze in den üppig gedüngten Boden
unſerer Gärten, ſo wird ſie außer kräftigerem Wuchs im Allgemeinen
und etwa gewiſſen Verfärbungen der Blätter ſelten irgend eine Verän¬
derung wahrnehmen laſſen, aber die aus ihren Samen erzogenen Indi¬
viduen zeigen die mannichfachſten und oft auffallendſten Abweichungen
von dem Charakter der Stammpflanze. Es bilden ſich ſogleich zahl¬
reiche und oft ſehr merkwürdige Spielarten, die faſt regelmäßig um ſo
mehr abweichen, je länger wir die Samenzucht durch mehrere Genera¬
tionen fortſetzen. Auf dieſe Weiſe ſind z. B. alle die verſchiedenartigen
Gartenpflanzen entſtanden, die wir als Kohlarten zuſammenfaſſen und
die als Wirſing und Weißkraut, als Winter- und Blumen-Kohl, als
Kohlrübe und Kohlrabi kaum noch irgend eine Aehnlichkeit unter ein¬
ander und mit dem wilden Kohl auf den Nordſeedünen und den Hel¬
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[29/0039] Ueber die Entſtehung der Arten. beſtimmte, gleich, aber keineswegs in allen; denn bei der frühen mehr oder weniger vollkommenen Selbſtändigkeit des neuen Individuums haben auch ſchon andere Einflüſſe unabhängig vom mütterlichen Orga¬ nismus auf daſſelbe beſtimmend eingewirkt und dieſe Einflüſſe werden das neue Individuum um ſo mehr abändern, je eingreifender und an¬ dauernder ſie einwirken. Wenn irgend ein lebendes Individuum weſentlich verſchiedenen äußeren Lebensverhältniſſen ausgeſetzt wird, ſo kann es doch, voraus¬ geſetzt, daß es dabei überall ſeine Exiſtenz erhalten kann, an ſich ſelbſt nur wenige und unbedeutende Abänderungen erleiden. Daß aber dieſe äußeren Verhältniſſe von tief eingreifender Wirkung geweſen ſind, zeigt ſich in der Nachkommenſchaft, indem dieſe in auffallenderer und man¬ nichfaltigerer Weiſe von dem ganzen Typus des erſten Individuums abweicht als geſchehen ſein würde, wenn jene äußeren Verhältniſſe nicht eingewirkt hätten, ſo daß ihr Einfluß eben erſt durch die Nach¬ kommenſchaft, hier aber auch ſehr ſchlagend in die Erſcheinung tritt. Wir kennen dieſes Geſetz am vollkommenſten bei den Pflanzen; ver¬ ſetzen wir eine wild wachſende Pflanze in den üppig gedüngten Boden unſerer Gärten, ſo wird ſie außer kräftigerem Wuchs im Allgemeinen und etwa gewiſſen Verfärbungen der Blätter ſelten irgend eine Verän¬ derung wahrnehmen laſſen, aber die aus ihren Samen erzogenen Indi¬ viduen zeigen die mannichfachſten und oft auffallendſten Abweichungen von dem Charakter der Stammpflanze. Es bilden ſich ſogleich zahl¬ reiche und oft ſehr merkwürdige Spielarten, die faſt regelmäßig um ſo mehr abweichen, je länger wir die Samenzucht durch mehrere Genera¬ tionen fortſetzen. Auf dieſe Weiſe ſind z. B. alle die verſchiedenartigen Gartenpflanzen entſtanden, die wir als Kohlarten zuſammenfaſſen und die als Wirſing und Weißkraut, als Winter- und Blumen-Kohl, als Kohlrübe und Kohlrabi kaum noch irgend eine Aehnlichkeit unter ein¬ ander und mit dem wilden Kohl auf den Nordſeedünen und den Hel¬ golander Felſen zeigen. Derſelbe Vorgang zeigt ſich auch bei den Thie¬ ren, wenn auch augenblicklich in weniger auffallenden Zügen. Was

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/39>, abgerufen am 18.04.2024.