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Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar, 1863.

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Wenn Du nunmehr wissen willst, welche Wirkung Dar-
wins Buch auf mich geäussert hat, so will ich Dir das recht
gerne auseinander setzen und noch dazu vor aller Welt.
Ich hoffe, dass der Nachweis, wie die Hauptzüge der Dar-
winschen Lehre auf das Leben der Sprachen Anwendung finden
oder vielmehr, wenn man so sagen darf, unbewuster Weise
bereits fanden, Dir, dem eifrigen Verfechter Darwinscher
Grundsätze, nicht ganz unwillkommen sein werde. Auch denke
ich, dass die Dinge, die ich Dir mittheilen möchte, auch für
andere nicht ohne alles Interesse sein dürften. Indem ich
mich zunächst an Dich wende und mir das harmlose Ver-
gnügen mache Dich mit einem offenen Briefe zu überraschen,
rede ich vor allem zu den Naturforschern, von denen ich
wünsche, dass sie mehr Notiz von den Sprachen nehmen
mögen, als diess bisher geschehen ist. Und zwar denke
ich hierbei nicht nur an die physiologische Erforschung der
Sprachlaute, welche in neuerer Zeit so ausgezeichnete
Fortschritte gemacht hat, sondern auch an die Beachtung
und Betrachtung der sprachlichen Unterschiede in ihrer
Bedeutung für die Naturgeschichte des Genus Homo. Soll-
ten nicht etwa die sprachlichen Unterschiede als Grundlage
eines natürlichen Systems dieses in seiner Art einzigen Ge-
nus brauchbar sein? Ist nicht die Entwickelungsgeschichte
der Sprache eine Hauptseite der Entwickelungsgeschichte
des Menschen? So viel steht doch gewiss fest, dass ohne
Kenntniss der sprachlichen Verhältnisse Niemand sich von
der Natur und von dem Wesen des Menschen eine genü-
gende Anschauung erwerben kann.

Dass bei den Sprachforschern die naturwissenschaftliche
Methode mehr und mehr Eingang finde, ist ebenfalls einer
meiner lebhaftesten Wünsche. Vielleicht vermögen die fol-

Wenn Du nunmehr wissen willst, welche Wirkung Dar-
wins Buch auf mich geäussert hat, so will ich Dir das recht
gerne auseinander setzen und noch dazu vor aller Welt.
Ich hoffe, dass der Nachweis, wie die Hauptzüge der Dar-
winschen Lehre auf das Leben der Sprachen Anwendung finden
oder vielmehr, wenn man so sagen darf, unbewuster Weise
bereits fanden, Dir, dem eifrigen Verfechter Darwinscher
Grundsätze, nicht ganz unwillkommen sein werde. Auch denke
ich, dass die Dinge, die ich Dir mittheilen möchte, auch für
andere nicht ohne alles Interesse sein dürften. Indem ich
mich zunächst an Dich wende und mir das harmlose Ver-
gnügen mache Dich mit einem offenen Briefe zu überraschen,
rede ich vor allem zu den Naturforschern, von denen ich
wünsche, dass sie mehr Notiz von den Sprachen nehmen
mögen, als diess bisher geschehen ist. Und zwar denke
ich hierbei nicht nur an die physiologische Erforschung der
Sprachlaute, welche in neuerer Zeit so ausgezeichnete
Fortschritte gemacht hat, sondern auch an die Beachtung
und Betrachtung der sprachlichen Unterschiede in ihrer
Bedeutung für die Naturgeschichte des Genus Homo. Soll-
ten nicht etwa die sprachlichen Unterschiede als Grundlage
eines natürlichen Systems dieses in seiner Art einzigen Ge-
nus brauchbar sein? Ist nicht die Entwickelungsgeschichte
der Sprache eine Hauptseite der Entwickelungsgeschichte
des Menschen? So viel steht doch gewiss fest, dass ohne
Kenntniss der sprachlichen Verhältnisse Niemand sich von
der Natur und von dem Wesen des Menschen eine genü-
gende Anschauung erwerben kann.

Dass bei den Sprachforschern die naturwissenschaftliche
Methode mehr und mehr Eingang finde, ist ebenfalls einer
meiner lebhaftesten Wünsche. Vielleicht vermögen die fol-

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Zitationshilfe: Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar, 1863, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleicher_darwin_1863/5>, abgerufen am 29.03.2024.