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Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar, 1863.

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Blatt, Blüte und Frucht auf uns hätten kommen können.
Die sprachlichen Verhältnisse sind also als paradigmatische
Beispiele für die Entstehung von Arten aus gemeinsamen
Grundformen einigermaassen lehrreich für jene Gebiete, auf
denen es, vor der Hand wenigstens, an nachweislichen
Fällen der Art noch mangelt. Uebrigens ist, wie gesagt,
der Unterschied bezüglich des Beobachtungsmaterials zwischen
der Sprachwelt und der Pflanzen- und Thierwelt nur ein
quantitativer, nicht aber ein specifischer, denn bekanntlich
ist ja die Abänderungsfähigkeit in gewissem Grade auch für
Thiere und Pflanzen eine anerkannte Thatsache.

Aus dem bisher über die Differenzierung einer Grund-
form in mehrere zuerst wenig dann allmählich stärker von
einander abweichende Formen Dargelegten folgt, dass wir
auf sprachlichem Gebiete zwischen den Bezeichnungen für
die verschiedenen Stufen der Unterschiede, d. h. zwischen
Sprache, Dialekt, Mundart, Untermundart keine festen und
sicheren Begriffsunterschiede aufzustellen vermögen. Die
Verschiedenheiten, welche durch diese Worte bezeichnet
werden, haben sich allmählich gebildet und gehen ineinan-
der über; noch dazu sind sie in jeder Gruppe von Sprachen
ihrem Wesen nach verschiedenartig. So stehen z. B. die
semitischen Sprachen in einem wesentlich anderen Verwandt-
schaftsverhältnisse zu einander, als die indogermanischen
Sprachen; von der Verwandtschaftsart beider Sippen unterschei-
det sich aber wieder die der finnischen Sprachen (finnisch,
lappisch, magyarisch u. s. f.) sehr wesentlich. So war denn
begreiflicher Weise noch kein Sprachforscher im Stande
eine genügende Definition von Sprache im Gegensatze zu
Dialekt u. s. f. zu geben. Was die Einen Sprachen nennen,
das nennen die Andern Dialekte und umgekehrt. Sogar das

2*

Blatt, Blüte und Frucht auf uns hätten kommen können.
Die sprachlichen Verhältnisse sind also als paradigmatische
Beispiele für die Entstehung von Arten aus gemeinsamen
Grundformen einigermaassen lehrreich für jene Gebiete, auf
denen es, vor der Hand wenigstens, an nachweislichen
Fällen der Art noch mangelt. Uebrigens ist, wie gesagt,
der Unterschied bezüglich des Beobachtungsmaterials zwischen
der Sprachwelt und der Pflanzen- und Thierwelt nur ein
quantitativer, nicht aber ein specifischer, denn bekanntlich
ist ja die Abänderungsfähigkeit in gewissem Grade auch für
Thiere und Pflanzen eine anerkannte Thatsache.

Aus dem bisher über die Differenzierung einer Grund-
form in mehrere zuerst wenig dann allmählich stärker von
einander abweichende Formen Dargelegten folgt, dass wir
auf sprachlichem Gebiete zwischen den Bezeichnungen für
die verschiedenen Stufen der Unterschiede, d. h. zwischen
Sprache, Dialekt, Mundart, Untermundart keine festen und
sicheren Begriffsunterschiede aufzustellen vermögen. Die
Verschiedenheiten, welche durch diese Worte bezeichnet
werden, haben sich allmählich gebildet und gehen ineinan-
der über; noch dazu sind sie in jeder Gruppe von Sprachen
ihrem Wesen nach verschiedenartig. So stehen z. B. die
semitischen Sprachen in einem wesentlich anderen Verwandt-
schaftsverhältnisse zu einander, als die indogermanischen
Sprachen; von der Verwandtschaftsart beider Sippen unterschei-
det sich aber wieder die der finnischen Sprachen (finnisch,
lappisch, magyarisch u. s. f.) sehr wesentlich. So war denn
begreiflicher Weise noch kein Sprachforscher im Stande
eine genügende Definition von Sprache im Gegensatze zu
Dialekt u. s. f. zu geben. Was die Einen Sprachen nennen,
das nennen die Andern Dialekte und umgekehrt. Sogar das

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[19/0021] Blatt, Blüte und Frucht auf uns hätten kommen können. Die sprachlichen Verhältnisse sind also als paradigmatische Beispiele für die Entstehung von Arten aus gemeinsamen Grundformen einigermaassen lehrreich für jene Gebiete, auf denen es, vor der Hand wenigstens, an nachweislichen Fällen der Art noch mangelt. Uebrigens ist, wie gesagt, der Unterschied bezüglich des Beobachtungsmaterials zwischen der Sprachwelt und der Pflanzen- und Thierwelt nur ein quantitativer, nicht aber ein specifischer, denn bekanntlich ist ja die Abänderungsfähigkeit in gewissem Grade auch für Thiere und Pflanzen eine anerkannte Thatsache. Aus dem bisher über die Differenzierung einer Grund- form in mehrere zuerst wenig dann allmählich stärker von einander abweichende Formen Dargelegten folgt, dass wir auf sprachlichem Gebiete zwischen den Bezeichnungen für die verschiedenen Stufen der Unterschiede, d. h. zwischen Sprache, Dialekt, Mundart, Untermundart keine festen und sicheren Begriffsunterschiede aufzustellen vermögen. Die Verschiedenheiten, welche durch diese Worte bezeichnet werden, haben sich allmählich gebildet und gehen ineinan- der über; noch dazu sind sie in jeder Gruppe von Sprachen ihrem Wesen nach verschiedenartig. So stehen z. B. die semitischen Sprachen in einem wesentlich anderen Verwandt- schaftsverhältnisse zu einander, als die indogermanischen Sprachen; von der Verwandtschaftsart beider Sippen unterschei- det sich aber wieder die der finnischen Sprachen (finnisch, lappisch, magyarisch u. s. f.) sehr wesentlich. So war denn begreiflicher Weise noch kein Sprachforscher im Stande eine genügende Definition von Sprache im Gegensatze zu Dialekt u. s. f. zu geben. Was die Einen Sprachen nennen, das nennen die Andern Dialekte und umgekehrt. Sogar das 2*

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Zitationshilfe: Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar, 1863, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleicher_darwin_1863/21>, abgerufen am 29.03.2024.