Nun hatte sie ihm nach seinen Begriffen eigentlich schon alles ge- währt; es war ihm nicht möglich zu künsteln an einem Verhältniß, das er sich so rein und groß dachte, und doch war ihm jede Zögerung uner- träglich. Von einer Gottheit, dachte er, begehrt man nicht erst das, was man nur als Übergang und Mittel denkt, sondern man bekennt sogleich mit Offenheit und Zuversicht das Ziel aller Wünsche. So bat auch er sie mit der unschuldigsten Unbe- fangenheit um alles, was man eine Geliebte bitten kann, und stellte ihr in einem Strome von Beredsamkeit dar, wie seine Leidenschaftlichkeit ihn zerstören würde, wenn sie zu weib- lich seyn wollte. Sie war nicht
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Nun hatte ſie ihm nach ſeinen Begriffen eigentlich ſchon alles ge- währt; es war ihm nicht möglich zu künſteln an einem Verhältniß, das er ſich ſo rein und groß dachte, und doch war ihm jede Zögerung uner- träglich. Von einer Gottheit, dachte er, begehrt man nicht erſt das, was man nur als Übergang und Mittel denkt, ſondern man bekennt ſogleich mit Offenheit und Zuverſicht das Ziel aller Wünſche. So bat auch er ſie mit der unſchuldigſten Unbe- fangenheit um alles, was man eine Geliebte bitten kann, und ſtellte ihr in einem Strome von Beredſamkeit dar, wie ſeine Leidenſchaftlichkeit ihn zerſtören würde, wenn ſie zu weib- lich ſeyn wollte. Sie war nicht
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Nun hatte ſie ihm nach ſeinen
Begriffen eigentlich ſchon alles ge-
währt; es war ihm nicht möglich zu
künſteln an einem Verhältniß, das
er ſich ſo rein und groß dachte, und
doch war ihm jede Zögerung uner-
träglich. Von einer Gottheit, dachte
er, begehrt man nicht erſt das, was
man nur als Übergang und Mittel
denkt, ſondern man bekennt ſogleich
mit Offenheit und Zuverſicht das
Ziel aller Wünſche. So bat auch
er ſie mit der unſchuldigſten Unbe-
fangenheit um alles, was man eine
Geliebte bitten kann, und ſtellte ihr
in einem Strome von Beredſamkeit
dar, wie ſeine Leidenſchaftlichkeit ihn
zerſtören würde, wenn ſie zu weib-
lich ſeyn wollte. Sie war nicht
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Schlegel, Friedrich von: Lucinde. Berlin, 1799, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_lucinde_1799/200>, abgerufen am 25.04.2024.
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