Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schlegel, Friedrich von: Lucinde. Berlin, 1799.

Bild:
<< vorherige Seite

Welt wußte. Mancher hatte sie be-
lehrt, keiner aber hatte ihr innerstes
Wesen so verstanden, so fein ge-
schont und ihren eigentlichen Werth
so geachtet wie Julius. Darum hing
sie auch mehr an ihm als sich sagen
läßt. Sie erinnerte sich vielleicht
zum erstenmal mit Rührung an ihre
erste Jugend und Unschuld und gefiel
sich nicht in der Umgebung, mit der
sie sonst ganz zufrieden war. Julius
fühlte das und freute sich damit,
aber er konnte nie über die Gering-
schätzung Herr werden, die ihm ihr
Stand und ihr Verderben einflößte,
und sein unauslöschliches Mistrauen
schien ihm hier gerecht zu seyn. Wie
entrüstet war er daher, als sie ihm
einst unerwarteter Weise die Ehre

Welt wußte. Mancher hatte ſie be-
lehrt, keiner aber hatte ihr innerſtes
Weſen ſo verſtanden, ſo fein ge-
ſchont und ihren eigentlichen Werth
ſo geachtet wie Julius. Darum hing
ſie auch mehr an ihm als ſich ſagen
läßt. Sie erinnerte ſich vielleicht
zum erſtenmal mit Rührung an ihre
erſte Jugend und Unſchuld und gefiel
ſich nicht in der Umgebung, mit der
ſie ſonſt ganz zufrieden war. Julius
fühlte das und freute ſich damit,
aber er konnte nie über die Gering-
ſchätzung Herr werden, die ihm ihr
Stand und ihr Verderben einflößte,
und ſein unauslöſchliches Mistrauen
ſchien ihm hier gerecht zu ſeyn. Wie
entrüſtet war er daher, als ſie ihm
einſt unerwarteter Weiſe die Ehre

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0157" n="152"/>
Welt wußte. Mancher hatte &#x017F;ie be-<lb/>
lehrt, keiner aber hatte ihr inner&#x017F;tes<lb/>
We&#x017F;en &#x017F;o ver&#x017F;tanden, &#x017F;o fein ge-<lb/>
&#x017F;chont und ihren eigentlichen Werth<lb/>
&#x017F;o geachtet wie Julius. Darum hing<lb/>
&#x017F;ie auch mehr an ihm als &#x017F;ich &#x017F;agen<lb/>
läßt. Sie erinnerte &#x017F;ich vielleicht<lb/>
zum er&#x017F;tenmal mit Rührung an ihre<lb/>
er&#x017F;te Jugend und Un&#x017F;chuld und gefiel<lb/>
&#x017F;ich nicht in der Umgebung, mit der<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;on&#x017F;t ganz zufrieden war. Julius<lb/>
fühlte das und freute &#x017F;ich damit,<lb/>
aber er konnte nie über die Gering-<lb/>
&#x017F;chätzung Herr werden, die ihm ihr<lb/>
Stand und ihr Verderben einflößte,<lb/>
und &#x017F;ein unauslö&#x017F;chliches Mistrauen<lb/>
&#x017F;chien ihm hier gerecht zu &#x017F;eyn. Wie<lb/>
entrü&#x017F;tet war er daher, als &#x017F;ie ihm<lb/>
ein&#x017F;t unerwarteter Wei&#x017F;e die Ehre<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[152/0157] Welt wußte. Mancher hatte ſie be- lehrt, keiner aber hatte ihr innerſtes Weſen ſo verſtanden, ſo fein ge- ſchont und ihren eigentlichen Werth ſo geachtet wie Julius. Darum hing ſie auch mehr an ihm als ſich ſagen läßt. Sie erinnerte ſich vielleicht zum erſtenmal mit Rührung an ihre erſte Jugend und Unſchuld und gefiel ſich nicht in der Umgebung, mit der ſie ſonſt ganz zufrieden war. Julius fühlte das und freute ſich damit, aber er konnte nie über die Gering- ſchätzung Herr werden, die ihm ihr Stand und ihr Verderben einflößte, und ſein unauslöſchliches Mistrauen ſchien ihm hier gerecht zu ſeyn. Wie entrüſtet war er daher, als ſie ihm einſt unerwarteter Weiſe die Ehre

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Teile erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_lucinde_1799
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_lucinde_1799/157
Zitationshilfe: Schlegel, Friedrich von: Lucinde. Berlin, 1799, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_lucinde_1799/157>, abgerufen am 25.04.2024.