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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122.

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und sentimentalische Dichter.
haupt nur moralisch sind, den ganzen Charakter mora-
lischer Selbstständigkeit und Freyheit, und giebt es über-
haupt nur im wirklichen Leben eine wahrhaft sittliche
That, die es auch vor einem rigoristischen Urtheil bliebe,
so kann sie nur von dem Idealisten ausgeübt werden. Aber
je reiner die Sittlichkeit seiner einzelnen Handlungen ist,
desto zufälliger ist sie auch; denn Stätigkeit und Noth-
wendigkeit ist zwar der Charakter der Natur aber nicht
der Freyheit. Nicht zwar, als ob der Idealism mit der
Sittlichkeit je in Streit gerathen könnte, welches sich
widerspricht; sondern weil die menschliche Natur eines
consequenten Idealism gar nicht fähig ist. Wenn sich
der Realist, auch in seinem moralischen Handeln, ei-
ner physischen Nothwendigkeit ruhig und gleichförmig
unterordnet, so muß der Idealist einen Schwung neh-
men, er muß augenblicklich seine Natur exaltieren, und
er vermag nichts, als insofern er begeistert ist. Als-
dann freylich vermag er auch desto mehr, und sein Betra-
gen wird einen Charakter von Hoheit und Größe zeigen,
den man in den Handlungen des Realisten vergeblich
sucht. Aber das wirkliche Leben ist keineswegs geschickt,
jene Begeisterung in ihm zu wecken und noch viel weni-
ger sie gleichförmig zu nähren. Gegen das Absolut-
große, von dem er jedesmal ausgeht, macht das Absolut-
kleine des einzelnen Falles, auf den er es anzuwenden
hat, einen gar zu starken Absatz. Weil sein Wille der
Form nach immer auf das Ganze gerichtet ist, so will
er ihn, der Materie nach, nicht auf Bruchstücke richten,

und ſentimentaliſche Dichter.
haupt nur moraliſch ſind, den ganzen Charakter mora-
liſcher Selbſtſtaͤndigkeit und Freyheit, und giebt es uͤber-
haupt nur im wirklichen Leben eine wahrhaft ſittliche
That, die es auch vor einem rigoriſtiſchen Urtheil bliebe,
ſo kann ſie nur von dem Idealiſten ausgeuͤbt werden. Aber
je reiner die Sittlichkeit ſeiner einzelnen Handlungen iſt,
deſto zufaͤlliger iſt ſie auch; denn Staͤtigkeit und Noth-
wendigkeit iſt zwar der Charakter der Natur aber nicht
der Freyheit. Nicht zwar, als ob der Idealism mit der
Sittlichkeit je in Streit gerathen koͤnnte, welches ſich
widerſpricht; ſondern weil die menſchliche Natur eines
conſequenten Idealism gar nicht faͤhig iſt. Wenn ſich
der Realiſt, auch in ſeinem moraliſchen Handeln, ei-
ner phyſiſchen Nothwendigkeit ruhig und gleichfoͤrmig
unterordnet, ſo muß der Idealiſt einen Schwung neh-
men, er muß augenblicklich ſeine Natur exaltieren, und
er vermag nichts, als inſofern er begeiſtert iſt. Als-
dann freylich vermag er auch deſto mehr, und ſein Betra-
gen wird einen Charakter von Hoheit und Groͤße zeigen,
den man in den Handlungen des Realiſten vergeblich
ſucht. Aber das wirkliche Leben iſt keineswegs geſchickt,
jene Begeiſterung in ihm zu wecken und noch viel weni-
ger ſie gleichfoͤrmig zu naͤhren. Gegen das Abſolut-
große, von dem er jedesmal ausgeht, macht das Abſolut-
kleine des einzelnen Falles, auf den er es anzuwenden
hat, einen gar zu ſtarken Abſatz. Weil ſein Wille der
Form nach immer auf das Ganze gerichtet iſt, ſo will
er ihn, der Materie nach, nicht auf Bruchſtuͤcke richten,

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[111/0046] und ſentimentaliſche Dichter. haupt nur moraliſch ſind, den ganzen Charakter mora- liſcher Selbſtſtaͤndigkeit und Freyheit, und giebt es uͤber- haupt nur im wirklichen Leben eine wahrhaft ſittliche That, die es auch vor einem rigoriſtiſchen Urtheil bliebe, ſo kann ſie nur von dem Idealiſten ausgeuͤbt werden. Aber je reiner die Sittlichkeit ſeiner einzelnen Handlungen iſt, deſto zufaͤlliger iſt ſie auch; denn Staͤtigkeit und Noth- wendigkeit iſt zwar der Charakter der Natur aber nicht der Freyheit. Nicht zwar, als ob der Idealism mit der Sittlichkeit je in Streit gerathen koͤnnte, welches ſich widerſpricht; ſondern weil die menſchliche Natur eines conſequenten Idealism gar nicht faͤhig iſt. Wenn ſich der Realiſt, auch in ſeinem moraliſchen Handeln, ei- ner phyſiſchen Nothwendigkeit ruhig und gleichfoͤrmig unterordnet, ſo muß der Idealiſt einen Schwung neh- men, er muß augenblicklich ſeine Natur exaltieren, und er vermag nichts, als inſofern er begeiſtert iſt. Als- dann freylich vermag er auch deſto mehr, und ſein Betra- gen wird einen Charakter von Hoheit und Groͤße zeigen, den man in den Handlungen des Realiſten vergeblich ſucht. Aber das wirkliche Leben iſt keineswegs geſchickt, jene Begeiſterung in ihm zu wecken und noch viel weni- ger ſie gleichfoͤrmig zu naͤhren. Gegen das Abſolut- große, von dem er jedesmal ausgeht, macht das Abſolut- kleine des einzelnen Falles, auf den er es anzuwenden hat, einen gar zu ſtarken Abſatz. Weil ſein Wille der Form nach immer auf das Ganze gerichtet iſt, ſo will er ihn, der Materie nach, nicht auf Bruchſtuͤcke richten,

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122, hier S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/46>, abgerufen am 23.04.2024.