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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122.

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und sentimentalische Dichter.
hervor, um zu einem folgenden zu führen. Aber eben
diese gegenseitige Beziehung der Erscheinungen auf einan-
der sichert einer jeden das Daseyn durch das Daseyn der
andern, und von der Abhängigkeit ihrer Wirkungen ist
die Stätigkeit und Nothwendigkeit derselben unzertrenn-
lich. Nichts ist frey in der Natur aber auch nichts ist
willkührlich in derselben.

Und gerade so zeigt sich der Realist, sowohl in sei-
nem Wissen als in seinem Thun. Auf alles, was
bedingungsweise existiert, erstreckt sich der Kreis seines
Wissens und Wirkens, aber nie bringt er es auch weiter
als zu bedingten Erkenntnissen, und die Regeln, die er
sich aus einzelnen Erfahrungen bildet, gelten in ihrer
ganzen Strenge genommen, auch nur Einmal; erhebt
er die Regel des Augenblicks zu einem allgemeinen Gesetz,
so wird er sich unausbleiblich in Irrthum stürzen. Will
daher der Realist in seinem Wissen zu etwas unbedingten
gelangen, so muß er es auf dem nehmlichen Wege ver-
suchen, auf dem die Natur ein unendliches wird, nehm-
lich auf dem Wege des Ganzen und in dem All der Er-
fahrung. Da aber die Summe der Erfahrung nie völlig
abgeschlossen wird, so ist eine comparative Allgemeinheit
das höchste, was der Realist in seinem Wissen erreicht.
Auf die Wiederkehr ähnlicher Fälle baut er seine Einsicht,
und wird daher richtig urtheilen in allem, was in der
Ordnung ist; in allem hingegen, was zum erstenmal sich
darstellt, kehrt seine Weißheit zu ihrem Anfang zurück.

Was von dem Wissen des Realisten gilt, das gilt

und ſentimentaliſche Dichter.
hervor, um zu einem folgenden zu fuͤhren. Aber eben
dieſe gegenſeitige Beziehung der Erſcheinungen auf einan-
der ſichert einer jeden das Daſeyn durch das Daſeyn der
andern, und von der Abhaͤngigkeit ihrer Wirkungen iſt
die Staͤtigkeit und Nothwendigkeit derſelben unzertrenn-
lich. Nichts iſt frey in der Natur aber auch nichts iſt
willkuͤhrlich in derſelben.

Und gerade ſo zeigt ſich der Realiſt, ſowohl in ſei-
nem Wiſſen als in ſeinem Thun. Auf alles, was
bedingungsweiſe exiſtiert, erſtreckt ſich der Kreis ſeines
Wiſſens und Wirkens, aber nie bringt er es auch weiter
als zu bedingten Erkenntniſſen, und die Regeln, die er
ſich aus einzelnen Erfahrungen bildet, gelten in ihrer
ganzen Strenge genommen, auch nur Einmal; erhebt
er die Regel des Augenblicks zu einem allgemeinen Geſetz,
ſo wird er ſich unausbleiblich in Irrthum ſtuͤrzen. Will
daher der Realiſt in ſeinem Wiſſen zu etwas unbedingten
gelangen, ſo muß er es auf dem nehmlichen Wege ver-
ſuchen, auf dem die Natur ein unendliches wird, nehm-
lich auf dem Wege des Ganzen und in dem All der Er-
fahrung. Da aber die Summe der Erfahrung nie voͤllig
abgeſchloſſen wird, ſo iſt eine comparative Allgemeinheit
das hoͤchſte, was der Realiſt in ſeinem Wiſſen erreicht.
Auf die Wiederkehr aͤhnlicher Faͤlle baut er ſeine Einſicht,
und wird daher richtig urtheilen in allem, was in der
Ordnung iſt; in allem hingegen, was zum erſtenmal ſich
darſtellt, kehrt ſeine Weißheit zu ihrem Anfang zuruͤck.

Was von dem Wiſſen des Realiſten gilt, das gilt

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[107/0042] und ſentimentaliſche Dichter. hervor, um zu einem folgenden zu fuͤhren. Aber eben dieſe gegenſeitige Beziehung der Erſcheinungen auf einan- der ſichert einer jeden das Daſeyn durch das Daſeyn der andern, und von der Abhaͤngigkeit ihrer Wirkungen iſt die Staͤtigkeit und Nothwendigkeit derſelben unzertrenn- lich. Nichts iſt frey in der Natur aber auch nichts iſt willkuͤhrlich in derſelben. Und gerade ſo zeigt ſich der Realiſt, ſowohl in ſei- nem Wiſſen als in ſeinem Thun. Auf alles, was bedingungsweiſe exiſtiert, erſtreckt ſich der Kreis ſeines Wiſſens und Wirkens, aber nie bringt er es auch weiter als zu bedingten Erkenntniſſen, und die Regeln, die er ſich aus einzelnen Erfahrungen bildet, gelten in ihrer ganzen Strenge genommen, auch nur Einmal; erhebt er die Regel des Augenblicks zu einem allgemeinen Geſetz, ſo wird er ſich unausbleiblich in Irrthum ſtuͤrzen. Will daher der Realiſt in ſeinem Wiſſen zu etwas unbedingten gelangen, ſo muß er es auf dem nehmlichen Wege ver- ſuchen, auf dem die Natur ein unendliches wird, nehm- lich auf dem Wege des Ganzen und in dem All der Er- fahrung. Da aber die Summe der Erfahrung nie voͤllig abgeſchloſſen wird, ſo iſt eine comparative Allgemeinheit das hoͤchſte, was der Realiſt in ſeinem Wiſſen erreicht. Auf die Wiederkehr aͤhnlicher Faͤlle baut er ſeine Einſicht, und wird daher richtig urtheilen in allem, was in der Ordnung iſt; in allem hingegen, was zum erſtenmal ſich darſtellt, kehrt ſeine Weißheit zu ihrem Anfang zuruͤck. Was von dem Wiſſen des Realiſten gilt, das gilt

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122, hier S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/42>, abgerufen am 25.04.2024.