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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122.

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und sentimentalische Dichter.
selbst zu einer überspannten Empfindungsweise verführt
werden kann. Es kann aber durch sein Beyspiel andre
zur Phantasterey verführen, weil Leser von reger Phan-
tasie und schwachem Verstand ihm nur die Freyheiten ab-
sehen, die es sich gegen die wirkliche Natur herausnimmt,
ohne ihm bis zu seiner hohen innern Nothwendigkeit fol-
gen zu können. Es geht dem sentimentalischen Genie
hier, wie wir bey dem naiven gesehen haben. Weil
dieses durch seine Natur alles ausführte, was es thut,
so will der gemeine Nachahmer an seiner eigenen Natur
keine schlechtere Führerinn haben. Meisterstücke aus der
naiven Gattung werden daher gewöhnlich die plattesten
und schmutzigsten Abdrücke gemeiner Natur, und Haupt-
werke aus der sentimentalischen ein zahlreiches Heer phan-
tastischer Produktionen zu ihrem Gefolge haben, wie die-
ses in der Litteratur eines jeden Volks leichtlich nachzu-
weisen ist.

Es sind in Rücksicht auf Poesie zwey Grundsätze im
Gebrauch, die an sich völlig richtig sind, aber in der Be-
deutung, worinn man sie gewöhnlich nimmt, einander
gerade aufheben. Von dem ersten, "daß die Dichtkunst
zum Vergnügen und zur Erhohlung diene" ist schon oben
gesagt worden, daß er der Leerheit und Platitüde in poe-
tischen Darstellungen nicht wenig günstig sey; durch den
andern Grundsatz "daß sie zur moralischen Veredlung
des Menschen diene" wird das Ueberspannte in Schutz
genommen. Es ist nicht überflüßig beyde Principien,
welche man so häufig im Munde führt, oft so ganz un-

und ſentimentaliſche Dichter.
ſelbſt zu einer uͤberſpannten Empfindungsweiſe verfuͤhrt
werden kann. Es kann aber durch ſein Beyſpiel andre
zur Phantaſterey verfuͤhren, weil Leſer von reger Phan-
taſie und ſchwachem Verſtand ihm nur die Freyheiten ab-
ſehen, die es ſich gegen die wirkliche Natur herausnimmt,
ohne ihm bis zu ſeiner hohen innern Nothwendigkeit fol-
gen zu koͤnnen. Es geht dem ſentimentaliſchen Genie
hier, wie wir bey dem naiven geſehen haben. Weil
dieſes durch ſeine Natur alles ausfuͤhrte, was es thut,
ſo will der gemeine Nachahmer an ſeiner eigenen Natur
keine ſchlechtere Fuͤhrerinn haben. Meiſterſtuͤcke aus der
naiven Gattung werden daher gewoͤhnlich die platteſten
und ſchmutzigſten Abdruͤcke gemeiner Natur, und Haupt-
werke aus der ſentimentaliſchen ein zahlreiches Heer phan-
taſtiſcher Produktionen zu ihrem Gefolge haben, wie die-
ſes in der Litteratur eines jeden Volks leichtlich nachzu-
weiſen iſt.

Es ſind in Ruͤckſicht auf Poeſie zwey Grundſaͤtze im
Gebrauch, die an ſich voͤllig richtig ſind, aber in der Be-
deutung, worinn man ſie gewoͤhnlich nimmt, einander
gerade aufheben. Von dem erſten, „daß die Dichtkunſt
zum Vergnuͤgen und zur Erhohlung diene” iſt ſchon oben
geſagt worden, daß er der Leerheit und Platituͤde in poe-
tiſchen Darſtellungen nicht wenig guͤnſtig ſey; durch den
andern Grundſatz „daß ſie zur moraliſchen Veredlung
des Menſchen diene” wird das Ueberſpannte in Schutz
genommen. Es iſt nicht uͤberfluͤßig beyde Principien,
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[95/0030] und ſentimentaliſche Dichter. ſelbſt zu einer uͤberſpannten Empfindungsweiſe verfuͤhrt werden kann. Es kann aber durch ſein Beyſpiel andre zur Phantaſterey verfuͤhren, weil Leſer von reger Phan- taſie und ſchwachem Verſtand ihm nur die Freyheiten ab- ſehen, die es ſich gegen die wirkliche Natur herausnimmt, ohne ihm bis zu ſeiner hohen innern Nothwendigkeit fol- gen zu koͤnnen. Es geht dem ſentimentaliſchen Genie hier, wie wir bey dem naiven geſehen haben. Weil dieſes durch ſeine Natur alles ausfuͤhrte, was es thut, ſo will der gemeine Nachahmer an ſeiner eigenen Natur keine ſchlechtere Fuͤhrerinn haben. Meiſterſtuͤcke aus der naiven Gattung werden daher gewoͤhnlich die platteſten und ſchmutzigſten Abdruͤcke gemeiner Natur, und Haupt- werke aus der ſentimentaliſchen ein zahlreiches Heer phan- taſtiſcher Produktionen zu ihrem Gefolge haben, wie die- ſes in der Litteratur eines jeden Volks leichtlich nachzu- weiſen iſt. Es ſind in Ruͤckſicht auf Poeſie zwey Grundſaͤtze im Gebrauch, die an ſich voͤllig richtig ſind, aber in der Be- deutung, worinn man ſie gewoͤhnlich nimmt, einander gerade aufheben. Von dem erſten, „daß die Dichtkunſt zum Vergnuͤgen und zur Erhohlung diene” iſt ſchon oben geſagt worden, daß er der Leerheit und Platituͤde in poe- tiſchen Darſtellungen nicht wenig guͤnſtig ſey; durch den andern Grundſatz „daß ſie zur moraliſchen Veredlung des Menſchen diene” wird das Ueberſpannte in Schutz genommen. Es iſt nicht uͤberfluͤßig beyde Principien, welche man ſo haͤufig im Munde fuͤhrt, oft ſo ganz un-

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122, hier S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/30>, abgerufen am 28.03.2024.