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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122.

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und sentimentalische Dichter.
das Herz zu bewegen, denn das Herz wird nur durch
Vernunft bewegt. Diese Ueberspannung verdient also
Zurechtweisung, nicht Verachtung, und wer darüber
spottet, mag sich wohl prüfen, ob er nicht vielleicht aus
Herzlosigkeit so klug, aus Vernunftmangel so verständig
ist. So ist auch die überspannte Zärtlichkeit im Punkt
der Galanterie und der Ehre, welche die Ritterromane,
besonders die spanischen charakterisiert, so ist die skrupu-
lose, bis zur Kostbarkeit getriebene Delikatesse in den
französischen und englischen sentimentalischen Romanen
(von der besten Gattung) nicht nur subjektiv wahr, son-
dern auch in objektiver Rücksicht nicht gehaltlos; es sind
ächte Empfindungen, die wirklich eine moralische Quelle
haben, und die nur darum verwerflich sind, weil sie die
Grenzen menschlicher Wahrheit überschreiten. Ohne jene
moralische Realität -- wie wäre es möglich, daß sie
mit solcher Stärke und Innigkeit könnten mitgetheilt wer-
den, wie doch die Erfahrung lehrt. Dasselbe gilt auch
von der moralischen und religiösen Schwärmerey, und
von der exaltierten Freyheits- und Vaterlandsliebe. Da
die Gegenstände dieser Empfindungen immer Ideen sind
und in der äussern Erfahrung nicht erscheinen, (denn was
z. B. den politischen Enthusiasten bewegt, ist nicht was
er siehet, sondern was er denkt) so hat die selbstthätige
Einbildungskraft eine gefährliche Freyheit und kann nicht,
wie in andern Fällen, durch die sinnliche Gegenwart ih-
res Objekts in ihre Grenzen zurückgewiesen werden. Aber
weder der Mensch überhaupt noch der Dichter insbesondre

und ſentimentaliſche Dichter.
das Herz zu bewegen, denn das Herz wird nur durch
Vernunft bewegt. Dieſe Ueberſpannung verdient alſo
Zurechtweiſung, nicht Verachtung, und wer daruͤber
ſpottet, mag ſich wohl pruͤfen, ob er nicht vielleicht aus
Herzloſigkeit ſo klug, aus Vernunftmangel ſo verſtaͤndig
iſt. So iſt auch die uͤberſpannte Zaͤrtlichkeit im Punkt
der Galanterie und der Ehre, welche die Ritterromane,
beſonders die ſpaniſchen charakteriſiert, ſo iſt die ſkrupu-
loſe, bis zur Koſtbarkeit getriebene Delikateſſe in den
franzoͤſiſchen und engliſchen ſentimentaliſchen Romanen
(von der beſten Gattung) nicht nur ſubjektiv wahr, ſon-
dern auch in objektiver Ruͤckſicht nicht gehaltlos; es ſind
aͤchte Empfindungen, die wirklich eine moraliſche Quelle
haben, und die nur darum verwerflich ſind, weil ſie die
Grenzen menſchlicher Wahrheit uͤberſchreiten. Ohne jene
moraliſche Realitaͤt — wie waͤre es moͤglich, daß ſie
mit ſolcher Staͤrke und Innigkeit koͤnnten mitgetheilt wer-
den, wie doch die Erfahrung lehrt. Daſſelbe gilt auch
von der moraliſchen und religioͤſen Schwaͤrmerey, und
von der exaltierten Freyheits- und Vaterlandsliebe. Da
die Gegenſtaͤnde dieſer Empfindungen immer Ideen ſind
und in der aͤuſſern Erfahrung nicht erſcheinen, (denn was
z. B. den politiſchen Enthuſiaſten bewegt, iſt nicht was
er ſiehet, ſondern was er denkt) ſo hat die ſelbſtthaͤtige
Einbildungskraft eine gefaͤhrliche Freyheit und kann nicht,
wie in andern Faͤllen, durch die ſinnliche Gegenwart ih-
res Objekts in ihre Grenzen zuruͤckgewieſen werden. Aber
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[93/0028] und ſentimentaliſche Dichter. das Herz zu bewegen, denn das Herz wird nur durch Vernunft bewegt. Dieſe Ueberſpannung verdient alſo Zurechtweiſung, nicht Verachtung, und wer daruͤber ſpottet, mag ſich wohl pruͤfen, ob er nicht vielleicht aus Herzloſigkeit ſo klug, aus Vernunftmangel ſo verſtaͤndig iſt. So iſt auch die uͤberſpannte Zaͤrtlichkeit im Punkt der Galanterie und der Ehre, welche die Ritterromane, beſonders die ſpaniſchen charakteriſiert, ſo iſt die ſkrupu- loſe, bis zur Koſtbarkeit getriebene Delikateſſe in den franzoͤſiſchen und engliſchen ſentimentaliſchen Romanen (von der beſten Gattung) nicht nur ſubjektiv wahr, ſon- dern auch in objektiver Ruͤckſicht nicht gehaltlos; es ſind aͤchte Empfindungen, die wirklich eine moraliſche Quelle haben, und die nur darum verwerflich ſind, weil ſie die Grenzen menſchlicher Wahrheit uͤberſchreiten. Ohne jene moraliſche Realitaͤt — wie waͤre es moͤglich, daß ſie mit ſolcher Staͤrke und Innigkeit koͤnnten mitgetheilt wer- den, wie doch die Erfahrung lehrt. Daſſelbe gilt auch von der moraliſchen und religioͤſen Schwaͤrmerey, und von der exaltierten Freyheits- und Vaterlandsliebe. Da die Gegenſtaͤnde dieſer Empfindungen immer Ideen ſind und in der aͤuſſern Erfahrung nicht erſcheinen, (denn was z. B. den politiſchen Enthuſiaſten bewegt, iſt nicht was er ſiehet, ſondern was er denkt) ſo hat die ſelbſtthaͤtige Einbildungskraft eine gefaͤhrliche Freyheit und kann nicht, wie in andern Faͤllen, durch die ſinnliche Gegenwart ih- res Objekts in ihre Grenzen zuruͤckgewieſen werden. Aber weder der Menſch uͤberhaupt noch der Dichter insbeſondre

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122, hier S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/28>, abgerufen am 19.04.2024.