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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122.

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VII. Ueber naive
aber freylich ist sie denen am gefährlichsten, die sich einer
gemeinen Natur von aussen zu erwehren haben, oder die
durch Mangel an Disciplin von innen verwildert sind.
Jenes ist Schuld, daß selbst gebildete Schriftsteller nicht
immer von Plattheiten frey bleiben, und dieses verhin-
derte schon manches herrliche Talent, sich des Platzes zu
bemächtigen, zu dem die Natur es berufen hatte. Der
Komödiendichter, dessen Genie sich am meisten von dem
wirklichen Leben nährt, ist eben daher auch am meisten
der Plattheit ausgesetzt, wie auch das Beyspiel des
Aristophanes und Plautus, und fast aller der
spätern Dichter lehret, die in die Fußtapfen derselben
getreten sind. Wie tief läßt uns nicht der erhabene
Shakespeare zuweilen sinken, mit welchen Triviali-
täten quälen uns nicht Lope de Vega, Moliere,
Regnard, Goldoni,
in welchen Schlamm zieht uns
nicht Holberg hinab. Schlegel, einer der geistreich-

kespeare, von Fielding und mehrern andern, selbst
deutschen Poeten behandelt ist. Hier wäre nun für die Al-
ten der Fall gewesen, einen von aussen zu rohen Stoff von
innen heraus, durch das Subjekt, zu vergeistigen, den poe-
tischen Gehalt, der der äussern Empfindung gemangelt hat-
te, durch Reflexion nachzuhohlen, die Natur durch die
Idee zu ergänzen, mit einem Wort, durch eine sentimen-
talische Operation aus einem beschränkten Objekt ein unend-
liches zu machen. Aber es waren naive, nicht sentimenta-
lische Dichtergenies; ihr Werk war also mit der äußern Em-
pfindung geendigt.

VII. Ueber naive
aber freylich iſt ſie denen am gefaͤhrlichſten, die ſich einer
gemeinen Natur von auſſen zu erwehren haben, oder die
durch Mangel an Diſciplin von innen verwildert ſind.
Jenes iſt Schuld, daß ſelbſt gebildete Schriftſteller nicht
immer von Plattheiten frey bleiben, und dieſes verhin-
derte ſchon manches herrliche Talent, ſich des Platzes zu
bemaͤchtigen, zu dem die Natur es berufen hatte. Der
Komoͤdiendichter, deſſen Genie ſich am meiſten von dem
wirklichen Leben naͤhrt, iſt eben daher auch am meiſten
der Plattheit ausgeſetzt, wie auch das Beyſpiel des
Ariſtophanes und Plautus, und faſt aller der
ſpaͤtern Dichter lehret, die in die Fußtapfen derſelben
getreten ſind. Wie tief laͤßt uns nicht der erhabene
Shakeſpeare zuweilen ſinken, mit welchen Triviali-
taͤten quaͤlen uns nicht Lope de Vega, Moliere,
Regnard, Goldoni,
in welchen Schlamm zieht uns
nicht Holberg hinab. Schlegel, einer der geiſtreich-

keſpeare, von Fielding und mehrern andern, ſelbſt
deutſchen Poeten behandelt iſt. Hier waͤre nun fuͤr die Al-
ten der Fall geweſen, einen von auſſen zu rohen Stoff von
innen heraus, durch das Subjekt, zu vergeiſtigen, den poe-
tiſchen Gehalt, der der aͤuſſern Empfindung gemangelt hat-
te, durch Reflexion nachzuhohlen, die Natur durch die
Idee zu ergaͤnzen, mit einem Wort, durch eine ſentimen-
taliſche Operation aus einem beſchraͤnkten Objekt ein unend-
liches zu machen. Aber es waren naive, nicht ſentimenta-
liſche Dichtergenies; ihr Werk war alſo mit der aͤußern Em-
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[84/0019] VII. Ueber naive aber freylich iſt ſie denen am gefaͤhrlichſten, die ſich einer gemeinen Natur von auſſen zu erwehren haben, oder die durch Mangel an Diſciplin von innen verwildert ſind. Jenes iſt Schuld, daß ſelbſt gebildete Schriftſteller nicht immer von Plattheiten frey bleiben, und dieſes verhin- derte ſchon manches herrliche Talent, ſich des Platzes zu bemaͤchtigen, zu dem die Natur es berufen hatte. Der Komoͤdiendichter, deſſen Genie ſich am meiſten von dem wirklichen Leben naͤhrt, iſt eben daher auch am meiſten der Plattheit ausgeſetzt, wie auch das Beyſpiel des Ariſtophanes und Plautus, und faſt aller der ſpaͤtern Dichter lehret, die in die Fußtapfen derſelben getreten ſind. Wie tief laͤßt uns nicht der erhabene Shakeſpeare zuweilen ſinken, mit welchen Triviali- taͤten quaͤlen uns nicht Lope de Vega, Moliere, Regnard, Goldoni, in welchen Schlamm zieht uns nicht Holberg hinab. Schlegel, einer der geiſtreich- * * keſpeare, von Fielding und mehrern andern, ſelbſt deutſchen Poeten behandelt iſt. Hier waͤre nun fuͤr die Al- ten der Fall geweſen, einen von auſſen zu rohen Stoff von innen heraus, durch das Subjekt, zu vergeiſtigen, den poe- tiſchen Gehalt, der der aͤuſſern Empfindung gemangelt hat- te, durch Reflexion nachzuhohlen, die Natur durch die Idee zu ergaͤnzen, mit einem Wort, durch eine ſentimen- taliſche Operation aus einem beſchraͤnkten Objekt ein unend- liches zu machen. Aber es waren naive, nicht ſentimenta- liſche Dichtergenies; ihr Werk war alſo mit der aͤußern Em- pfindung geendigt.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122, hier S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/19>, abgerufen am 25.04.2024.