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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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Hat er aber dieses gethan, so ist er auch eben dadurch
von allen Gesetzen losgesprochen, durch die ein verführtes
Herz sich gegen sich selbst sicher stellt. Er ist rein, er ist
unschuldig und was der unschuldigen Natur erlaubt ist,
ist es auch ihm; bist du, der du ihn liesest oder hörst,
nicht mehr schuldlos, und kannst du es nicht einmal mo-
mentweise durch seine reinigende Gegenwart werden, so
ist es dein Unglück und nicht das seine; du verlässest
ihn, er hat für dich nicht gesungen.

Es läßt sich also, in Absicht auf Freyheiten dieser Art
folgendes festsetzen.

Fürs erste: nur die Natur kann sie rechtfertigen. Sie
dürfen mithin nicht das Werk der Wahl und einer absicht-
lichen Nachahmung seyn, denn dem Willen, der immer
nach moralischen Gesetzen gerichtet wird, können wir ei-
ne Begünstigung der Sinnlichkeit niemals vergeben. Sie
müssen also Naivetät seyn. Um uns aber überzeugen
zu können, daß sie dieses wirklich sind, müssen wir sie von
allem übrigen, was gleichfalls in der Natur gegründet ist,
unterstützt und begleitet sehen, weil die Natur nur an der
strengen Consequenz, Einheit und Gleichförmigkeit ihrer
Wirkungen zu erkennen ist. Nur einem Herzen, welches
alle Künsteley überhaupt, und mithin auch da, wo sie
nützt, verabscheut, erlauben wir, sich da, wo sie drückt
und einschränkt, davon loszusprechen; nur einem Herzen,
welches sich allen Feßeln der Natur unterwirft, erlauben
wir, von den Freyheiten derselben Gebrauch zu machen.
Alle übrigen Empfindungen eines solchen Menschen müs-
fen folglich das Gepräge der Natürlichkeit an sich tragen;
er muß wahr, einfach, frey, offen, gefühlvoll, gerade

Hat er aber dieſes gethan, ſo iſt er auch eben dadurch
von allen Geſetzen losgeſprochen, durch die ein verfuͤhrtes
Herz ſich gegen ſich ſelbſt ſicher ſtellt. Er iſt rein, er iſt
unſchuldig und was der unſchuldigen Natur erlaubt iſt,
iſt es auch ihm; biſt du, der du ihn lieſeſt oder hoͤrſt,
nicht mehr ſchuldlos, und kannſt du es nicht einmal mo-
mentweiſe durch ſeine reinigende Gegenwart werden, ſo
iſt es dein Ungluͤck und nicht das ſeine; du verlaͤſſeſt
ihn, er hat fuͤr dich nicht geſungen.

Es laͤßt ſich alſo, in Abſicht auf Freyheiten dieſer Art
folgendes feſtſetzen.

Fuͤrs erſte: nur die Natur kann ſie rechtfertigen. Sie
duͤrfen mithin nicht das Werk der Wahl und einer abſicht-
lichen Nachahmung ſeyn, denn dem Willen, der immer
nach moraliſchen Geſetzen gerichtet wird, koͤnnen wir ei-
ne Beguͤnſtigung der Sinnlichkeit niemals vergeben. Sie
muͤſſen alſo Naivetaͤt ſeyn. Um uns aber uͤberzeugen
zu koͤnnen, daß ſie dieſes wirklich ſind, muͤſſen wir ſie von
allem uͤbrigen, was gleichfalls in der Natur gegruͤndet iſt,
unterſtuͤtzt und begleitet ſehen, weil die Natur nur an der
ſtrengen Conſequenz, Einheit und Gleichfoͤrmigkeit ihrer
Wirkungen zu erkennen iſt. Nur einem Herzen, welches
alle Kuͤnſteley uͤberhaupt, und mithin auch da, wo ſie
nuͤtzt, verabſcheut, erlauben wir, ſich da, wo ſie druͤckt
und einſchraͤnkt, davon loszuſprechen; nur einem Herzen,
welches ſich allen Feßeln der Natur unterwirft, erlauben
wir, von den Freyheiten derſelben Gebrauch zu machen.
Alle uͤbrigen Empfindungen eines ſolchen Menſchen muͤſ-
fen folglich das Gepraͤge der Natuͤrlichkeit an ſich tragen;
er muß wahr, einfach, frey, offen, gefuͤhlvoll, gerade

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[41/0048] Hat er aber dieſes gethan, ſo iſt er auch eben dadurch von allen Geſetzen losgeſprochen, durch die ein verfuͤhrtes Herz ſich gegen ſich ſelbſt ſicher ſtellt. Er iſt rein, er iſt unſchuldig und was der unſchuldigen Natur erlaubt iſt, iſt es auch ihm; biſt du, der du ihn lieſeſt oder hoͤrſt, nicht mehr ſchuldlos, und kannſt du es nicht einmal mo- mentweiſe durch ſeine reinigende Gegenwart werden, ſo iſt es dein Ungluͤck und nicht das ſeine; du verlaͤſſeſt ihn, er hat fuͤr dich nicht geſungen. Es laͤßt ſich alſo, in Abſicht auf Freyheiten dieſer Art folgendes feſtſetzen. Fuͤrs erſte: nur die Natur kann ſie rechtfertigen. Sie duͤrfen mithin nicht das Werk der Wahl und einer abſicht- lichen Nachahmung ſeyn, denn dem Willen, der immer nach moraliſchen Geſetzen gerichtet wird, koͤnnen wir ei- ne Beguͤnſtigung der Sinnlichkeit niemals vergeben. Sie muͤſſen alſo Naivetaͤt ſeyn. Um uns aber uͤberzeugen zu koͤnnen, daß ſie dieſes wirklich ſind, muͤſſen wir ſie von allem uͤbrigen, was gleichfalls in der Natur gegruͤndet iſt, unterſtuͤtzt und begleitet ſehen, weil die Natur nur an der ſtrengen Conſequenz, Einheit und Gleichfoͤrmigkeit ihrer Wirkungen zu erkennen iſt. Nur einem Herzen, welches alle Kuͤnſteley uͤberhaupt, und mithin auch da, wo ſie nuͤtzt, verabſcheut, erlauben wir, ſich da, wo ſie druͤckt und einſchraͤnkt, davon loszuſprechen; nur einem Herzen, welches ſich allen Feßeln der Natur unterwirft, erlauben wir, von den Freyheiten derſelben Gebrauch zu machen. Alle uͤbrigen Empfindungen eines ſolchen Menſchen muͤſ- fen folglich das Gepraͤge der Natuͤrlichkeit an ſich tragen; er muß wahr, einfach, frey, offen, gefuͤhlvoll, gerade

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/48>, abgerufen am 29.03.2024.