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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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sagen haben. * Wessen Gemüth nicht schon zubereitet
ist, über die Wirklichkeit hinaus ins Ideenreich zu gehen,
für den wird der reichste Gehalt leerer Schein und der
höchste Dichterschwung Ueberspannung seyn. Keinem
Vernünftigen kann es einfallen, in demjenigen, worinn
Homer groß ist, irgend einen Neuern ihm an die Seite
stellen zu wollen, und es klingt lächerlich genug, wenn
man einen Milton oder Klopstock mit dem Nahmen eines
neuern Homer beehrt sieht. Eben so wenig aber wird
irgend ein alter Dichter und am wenigsten Homer in dem-
jenigen, was den modernen Dichter charakteristisch aus-
zeichnet, die Vergleichung mit demselben aushalten kön-
nen. Jener, möchte ich es ausdrücken, ist mächtig durch

* Moliere als naiver Dichter durfte es allenfalls auf den
Ausspruch seiner Magd ankommen lassen, was in seinen Co-
mödien stehen bleiben und wegfallen sollte; auch wäre zu
wünschen gewesen, daß die Meister des französischen Ko-
thurns mit ihren Trauerspielen zuweilen diese Probe gemacht
hätten. Aber ich wollte nicht rathen, daß mit den Klop-
stockischen Oden, mit den schönsten Stellen im Messias, im
verlorenen Paradies, in Nathan dem Weisen, und vielen
andern Stücken eine ähnliche Probe angestellt würde. Doch
was sage ich? diese Probe ist wirklich angestellt, und die
Molierische Magd raisonniert ja langes und breites in
unsern kritischen Bibliotheken, philosophischen und littera-
rischen Annalen und Reisebeschreibungen über Poesie, Kunst
und dergleichen, nur, wie billig, auf deutschem Boden ein
wenig abgeschmakter als auf französischem, und wie es sich
für die Gesindestube der deutschen Litteratur geziemt.

ſagen haben. * Weſſen Gemuͤth nicht ſchon zubereitet
iſt, uͤber die Wirklichkeit hinaus ins Ideenreich zu gehen,
fuͤr den wird der reichſte Gehalt leerer Schein und der
hoͤchſte Dichterſchwung Ueberſpannung ſeyn. Keinem
Vernuͤnftigen kann es einfallen, in demjenigen, worinn
Homer groß iſt, irgend einen Neuern ihm an die Seite
ſtellen zu wollen, und es klingt laͤcherlich genug, wenn
man einen Milton oder Klopſtock mit dem Nahmen eines
neuern Homer beehrt ſieht. Eben ſo wenig aber wird
irgend ein alter Dichter und am wenigſten Homer in dem-
jenigen, was den modernen Dichter charakteriſtiſch aus-
zeichnet, die Vergleichung mit demſelben aushalten koͤn-
nen. Jener, moͤchte ich es ausdruͤcken, iſt maͤchtig durch

* Moliere als naiver Dichter durfte es allenfalls auf den
Ausſpruch ſeiner Magd ankommen laſſen, was in ſeinen Co-
moͤdien ſtehen bleiben und wegfallen ſollte; auch waͤre zu
wuͤnſchen geweſen, daß die Meiſter des franzoͤſiſchen Ko-
thurns mit ihren Trauerſpielen zuweilen dieſe Probe gemacht
haͤtten. Aber ich wollte nicht rathen, daß mit den Klop-
ſtockiſchen Oden, mit den ſchoͤnſten Stellen im Meſſias, im
verlorenen Paradies, in Nathan dem Weiſen, und vielen
andern Stuͤcken eine aͤhnliche Probe angeſtellt wuͤrde. Doch
was ſage ich? dieſe Probe iſt wirklich angeſtellt, und die
Molieriſche Magd raiſonniert ja langes und breites in
unſern kritiſchen Bibliotheken, philoſophiſchen und littera-
riſchen Annalen und Reiſebeſchreibungen uͤber Poeſie, Kunſt
und dergleichen, nur, wie billig, auf deutſchem Boden ein
wenig abgeſchmakter als auf franzoͤſiſchem, und wie es ſich
fuͤr die Geſindeſtube der deutſchen Litteratur geziemt.
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[6/0013] ſagen haben. * Weſſen Gemuͤth nicht ſchon zubereitet iſt, uͤber die Wirklichkeit hinaus ins Ideenreich zu gehen, fuͤr den wird der reichſte Gehalt leerer Schein und der hoͤchſte Dichterſchwung Ueberſpannung ſeyn. Keinem Vernuͤnftigen kann es einfallen, in demjenigen, worinn Homer groß iſt, irgend einen Neuern ihm an die Seite ſtellen zu wollen, und es klingt laͤcherlich genug, wenn man einen Milton oder Klopſtock mit dem Nahmen eines neuern Homer beehrt ſieht. Eben ſo wenig aber wird irgend ein alter Dichter und am wenigſten Homer in dem- jenigen, was den modernen Dichter charakteriſtiſch aus- zeichnet, die Vergleichung mit demſelben aushalten koͤn- nen. Jener, moͤchte ich es ausdruͤcken, iſt maͤchtig durch * Moliere als naiver Dichter durfte es allenfalls auf den Ausſpruch ſeiner Magd ankommen laſſen, was in ſeinen Co- moͤdien ſtehen bleiben und wegfallen ſollte; auch waͤre zu wuͤnſchen geweſen, daß die Meiſter des franzoͤſiſchen Ko- thurns mit ihren Trauerſpielen zuweilen dieſe Probe gemacht haͤtten. Aber ich wollte nicht rathen, daß mit den Klop- ſtockiſchen Oden, mit den ſchoͤnſten Stellen im Meſſias, im verlorenen Paradies, in Nathan dem Weiſen, und vielen andern Stuͤcken eine aͤhnliche Probe angeſtellt wuͤrde. Doch was ſage ich? dieſe Probe iſt wirklich angeſtellt, und die Molieriſche Magd raiſonniert ja langes und breites in unſern kritiſchen Bibliotheken, philoſophiſchen und littera- riſchen Annalen und Reiſebeſchreibungen uͤber Poeſie, Kunſt und dergleichen, nur, wie billig, auf deutſchem Boden ein wenig abgeſchmakter als auf franzoͤſiſchem, und wie es ſich fuͤr die Geſindeſtube der deutſchen Litteratur geziemt.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/13>, abgerufen am 28.03.2024.