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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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ihn umfassen will. Nichts erwiedert er, nichts kann ihn
schmelzen, oder den strengen Gürtel seiner Nüchternheit
lösen. Die trockene Wahrheit, womit er den Gegenstand
behandelt, erscheint nicht selten als Unempfindlichkeit.
Das Objekt besitzt ihn gänzlich, sein Herz liegt nicht
wie ein schlechtes Metall gleich unter der Oberfläche, son-
dern will wie das Gold in der Tiefe gesucht seyn. Wie
die Gottheit hinter dem Weltgebäude, so steht er hinter
seinem Werk; Er ist das Werk und das Werk ist Er;
man muß des erstern schon nicht werth oder nicht mächtig
oder schon satt seyn, um nach Ihm nur zu fragen.

So zeigt sich z. B. Homer unter den Alten und
Shakespeare unter den Neuern; zwey höchst ver-
schiedene, durch den unermeßlichen Abstand der Zeitalter
getrennte Naturen, aber gerade in diesem Charakterzuge
völlig eins. Als ich in einem sehr frühen Alter den letz-
tern Dichter zuerst kennen lernte, empörte mich seine
Kälte, seine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im höch-
sten Pathos zu scherzen, die Herzzerschneidenden Auftritte
im Hamlet, im König Lear, im Makbeth u. s. f.
durch einen Narren zu stören, die ihn bald da fest hielt,
wo meine Empfindung forteilte, bald da kaltherzig fort-
riß, wo das Herz so gern still gestanden wäre. Durch
die Bekanntschaft mit neuern Poeten verleitet, in dem
Werke den Dichter zuerst aufzusuchen, seinem Herzen
zu begegnen, mit ihm gemeinschaftlich über seinen Ge-
genstand zu reflektieren; kurz das Objekt in dem Subjekt
anzuschauen, war es mir unerträglich, daß der Poet sich
hier gar nirgends fassen ließ und mir nirgends Rede stehen
wollte. Mehrere Jahre hatte er schon meine ganze Ver-
ehrung und war mein Studium, ehe ich sein Individuum

ihn umfaſſen will. Nichts erwiedert er, nichts kann ihn
ſchmelzen, oder den ſtrengen Guͤrtel ſeiner Nuͤchternheit
loͤſen. Die trockene Wahrheit, womit er den Gegenſtand
behandelt, erſcheint nicht ſelten als Unempfindlichkeit.
Das Objekt beſitzt ihn gaͤnzlich, ſein Herz liegt nicht
wie ein ſchlechtes Metall gleich unter der Oberflaͤche, ſon-
dern will wie das Gold in der Tiefe geſucht ſeyn. Wie
die Gottheit hinter dem Weltgebaͤude, ſo ſteht er hinter
ſeinem Werk; Er iſt das Werk und das Werk iſt Er;
man muß des erſtern ſchon nicht werth oder nicht maͤchtig
oder ſchon ſatt ſeyn, um nach Ihm nur zu fragen.

So zeigt ſich z. B. Homer unter den Alten und
Shakeſpeare unter den Neuern; zwey hoͤchſt ver-
ſchiedene, durch den unermeßlichen Abſtand der Zeitalter
getrennte Naturen, aber gerade in dieſem Charakterzuge
voͤllig eins. Als ich in einem ſehr fruͤhen Alter den letz-
tern Dichter zuerſt kennen lernte, empoͤrte mich ſeine
Kaͤlte, ſeine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im hoͤch-
ſten Pathos zu ſcherzen, die Herzzerſchneidenden Auftritte
im Hamlet, im Koͤnig Lear, im Makbeth u. ſ. f.
durch einen Narren zu ſtoͤren, die ihn bald da feſt hielt,
wo meine Empfindung forteilte, bald da kaltherzig fort-
riß, wo das Herz ſo gern ſtill geſtanden waͤre. Durch
die Bekanntſchaft mit neuern Poeten verleitet, in dem
Werke den Dichter zuerſt aufzuſuchen, ſeinem Herzen
zu begegnen, mit ihm gemeinſchaftlich uͤber ſeinen Ge-
genſtand zu reflektieren; kurz das Objekt in dem Subjekt
anzuſchauen, war es mir unertraͤglich, daß der Poet ſich
hier gar nirgends faſſen ließ und mir nirgends Rede ſtehen
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ehrung und war mein Studium, ehe ich ſein Individuum

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[72/0040] ihn umfaſſen will. Nichts erwiedert er, nichts kann ihn ſchmelzen, oder den ſtrengen Guͤrtel ſeiner Nuͤchternheit loͤſen. Die trockene Wahrheit, womit er den Gegenſtand behandelt, erſcheint nicht ſelten als Unempfindlichkeit. Das Objekt beſitzt ihn gaͤnzlich, ſein Herz liegt nicht wie ein ſchlechtes Metall gleich unter der Oberflaͤche, ſon- dern will wie das Gold in der Tiefe geſucht ſeyn. Wie die Gottheit hinter dem Weltgebaͤude, ſo ſteht er hinter ſeinem Werk; Er iſt das Werk und das Werk iſt Er; man muß des erſtern ſchon nicht werth oder nicht maͤchtig oder ſchon ſatt ſeyn, um nach Ihm nur zu fragen. So zeigt ſich z. B. Homer unter den Alten und Shakeſpeare unter den Neuern; zwey hoͤchſt ver- ſchiedene, durch den unermeßlichen Abſtand der Zeitalter getrennte Naturen, aber gerade in dieſem Charakterzuge voͤllig eins. Als ich in einem ſehr fruͤhen Alter den letz- tern Dichter zuerſt kennen lernte, empoͤrte mich ſeine Kaͤlte, ſeine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im hoͤch- ſten Pathos zu ſcherzen, die Herzzerſchneidenden Auftritte im Hamlet, im Koͤnig Lear, im Makbeth u. ſ. f. durch einen Narren zu ſtoͤren, die ihn bald da feſt hielt, wo meine Empfindung forteilte, bald da kaltherzig fort- riß, wo das Herz ſo gern ſtill geſtanden waͤre. Durch die Bekanntſchaft mit neuern Poeten verleitet, in dem Werke den Dichter zuerſt aufzuſuchen, ſeinem Herzen zu begegnen, mit ihm gemeinſchaftlich uͤber ſeinen Ge- genſtand zu reflektieren; kurz das Objekt in dem Subjekt anzuſchauen, war es mir unertraͤglich, daß der Poet ſich hier gar nirgends faſſen ließ und mir nirgends Rede ſtehen wollte. Mehrere Jahre hatte er ſchon meine ganze Ver- ehrung und war mein Studium, ehe ich ſein Individuum

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/40>, abgerufen am 29.03.2024.