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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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jener Mann für Armuth verschmachte, und das Kind
hingeht, und dem armen Mann seines Vaters Geldbörse
zuträgt, so ist diese Handlung naiv; denn die gesunde
Natur handelte aus dem Kinde, und in einer Welt, wo
die gesunde Natur herrschte, würde es vollkommen recht
gehabt haben, so zu verfahren. Es sieht bloß auf das
Bedürfniß, und auf das nächste Mittel es zu befriedigen;
eine solche Ausdehnung des Eigenthumsrechtes, wobey
ein Theil der Menschen zu Grunde gehen kann, ist in
der bloßen Natur nicht gegründet. Die Handlung des
Kindes ist also eine Beschämung der wirklichen Welt, und
das gesteht auch unser Herz durch das Wohlgefallen, wel-
ches es über jene Handlung empfindet.

Wenn ein Mensch ohne Weltkenntniß, sonst aber von
gutem Verstande, einem andern, der ihn betrügt, sich
aber geschickt zu verstellen weiß, seine Geheimnisse beich-
tet, und ihm durch seine Aufrichtigkeit selbst die Mit-
tel leyht ihm zu schaden, so finden wir das naiv. Wir
lachen ihn aus, aber können uns doch nicht erwehren, ihn
deßwegen hochzuschätzen. Denn sein Vertrauen auf den
andern quillt aus der Redlichkeit seiner eigenen Gesin-
nungen; wenigstens ist er nur in so fern naiv, als dieses
der Fall ist.

Das Naive der Denkart kann daher niemals eine Ei-
genschaft verdorbener Menschen seyn, sondern nur Kin-
dern und kindlich gesinnten Menschen zukommen. Diese
letztern handeln und denken oft mitten unter den gekün-
stelten Verhältnissen der großen Welt naiv; sie vergessen
aus eigener schöner Menschlichkeit, daß sie es mit einer
verderbten Welt zu thun haben, und betragen sich selbst

jener Mann fuͤr Armuth verſchmachte, und das Kind
hingeht, und dem armen Mann ſeines Vaters Geldboͤrſe
zutraͤgt, ſo iſt dieſe Handlung naiv; denn die geſunde
Natur handelte aus dem Kinde, und in einer Welt, wo
die geſunde Natur herrſchte, wuͤrde es vollkommen recht
gehabt haben, ſo zu verfahren. Es ſieht bloß auf das
Beduͤrfniß, und auf das naͤchſte Mittel es zu befriedigen;
eine ſolche Ausdehnung des Eigenthumsrechtes, wobey
ein Theil der Menſchen zu Grunde gehen kann, iſt in
der bloßen Natur nicht gegruͤndet. Die Handlung des
Kindes iſt alſo eine Beſchaͤmung der wirklichen Welt, und
das geſteht auch unſer Herz durch das Wohlgefallen, wel-
ches es uͤber jene Handlung empfindet.

Wenn ein Menſch ohne Weltkenntniß, ſonſt aber von
gutem Verſtande, einem andern, der ihn betruͤgt, ſich
aber geſchickt zu verſtellen weiß, ſeine Geheimniſſe beich-
tet, und ihm durch ſeine Aufrichtigkeit ſelbſt die Mit-
tel leyht ihm zu ſchaden, ſo finden wir das naiv. Wir
lachen ihn aus, aber koͤnnen uns doch nicht erwehren, ihn
deßwegen hochzuſchaͤtzen. Denn ſein Vertrauen auf den
andern quillt aus der Redlichkeit ſeiner eigenen Geſin-
nungen; wenigſtens iſt er nur in ſo fern naiv, als dieſes
der Fall iſt.

Das Naive der Denkart kann daher niemals eine Ei-
genſchaft verdorbener Menſchen ſeyn, ſondern nur Kin-
dern und kindlich geſinnten Menſchen zukommen. Dieſe
letztern handeln und denken oft mitten unter den gekuͤn-
ſtelten Verhaͤltniſſen der großen Welt naiv; ſie vergeſſen
aus eigener ſchoͤner Menſchlichkeit, daß ſie es mit einer
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[56/0024] jener Mann fuͤr Armuth verſchmachte, und das Kind hingeht, und dem armen Mann ſeines Vaters Geldboͤrſe zutraͤgt, ſo iſt dieſe Handlung naiv; denn die geſunde Natur handelte aus dem Kinde, und in einer Welt, wo die geſunde Natur herrſchte, wuͤrde es vollkommen recht gehabt haben, ſo zu verfahren. Es ſieht bloß auf das Beduͤrfniß, und auf das naͤchſte Mittel es zu befriedigen; eine ſolche Ausdehnung des Eigenthumsrechtes, wobey ein Theil der Menſchen zu Grunde gehen kann, iſt in der bloßen Natur nicht gegruͤndet. Die Handlung des Kindes iſt alſo eine Beſchaͤmung der wirklichen Welt, und das geſteht auch unſer Herz durch das Wohlgefallen, wel- ches es uͤber jene Handlung empfindet. Wenn ein Menſch ohne Weltkenntniß, ſonſt aber von gutem Verſtande, einem andern, der ihn betruͤgt, ſich aber geſchickt zu verſtellen weiß, ſeine Geheimniſſe beich- tet, und ihm durch ſeine Aufrichtigkeit ſelbſt die Mit- tel leyht ihm zu ſchaden, ſo finden wir das naiv. Wir lachen ihn aus, aber koͤnnen uns doch nicht erwehren, ihn deßwegen hochzuſchaͤtzen. Denn ſein Vertrauen auf den andern quillt aus der Redlichkeit ſeiner eigenen Geſin- nungen; wenigſtens iſt er nur in ſo fern naiv, als dieſes der Fall iſt. Das Naive der Denkart kann daher niemals eine Ei- genſchaft verdorbener Menſchen ſeyn, ſondern nur Kin- dern und kindlich geſinnten Menſchen zukommen. Dieſe letztern handeln und denken oft mitten unter den gekuͤn- ſtelten Verhaͤltniſſen der großen Welt naiv; ſie vergeſſen aus eigener ſchoͤner Menſchlichkeit, daß ſie es mit einer verderbten Welt zu thun haben, und betragen ſich ſelbſt

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/24>, abgerufen am 29.03.2024.