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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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und unser Gefühl in einem solchen Augenblick ist zu
sichtbar mit einer gewißen Wehmuth gemischt, als daß
sich diese Quelle desselben verkennen liesse. In dem Kinde
ist die Anlage und Bestimmung, in uns ist die
Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit
hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist uns daher eine
Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüll-
ten, aber des aufgegebenen, und es ist also keinesweges
die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es
ist ganz im Gegentheil die Vorstellung seiner reinen und
freyen Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit, was
uns rührt. Dem Menschen von Sittlichkeit und Em-
pfindung wird ein Kind deswegen ein heiliger Gegen-
stand seyn, ein Gegenstand nehmlich, der durch die Größe
einer Idee jede Größe der Erfahrung vernichtet; und
der, was er auch in der Beurtheilung des Verstandes
verlieren mag; in der Beurtheilung der Vernunft wie-
der in reichem Maaße gewinnt.

Eben aus diesem Widerspruch zwischen dem Urtheile
der Vernunft und des Verstandes geht die ganze eigene
Erscheinung des gemischten Gefühls hervor, welches das
Naive der Denkart in uns erreget. Es verbindet die
kindliche Einfalt mit der kindischen; durch die
letztere giebt es dem Verstand eine Blöße und bewirkt
jenes Lächeln, wodurch wir unsre (theoretische)
Ueberlegenheit zu erkennen geben. Sobald wir aber
Ursache haben zu glauben, daß die kindische Einfalt zu-
gleich eine kindliche sey, daß folglich nicht Unverstand,
nicht theoretisches Unvermögen, sondern eine höhere
praktische Stärke, ein Herz voll Unschuld und Wahr-
heit, die Quelle davon sey, welches die Hülfe der Kunst

und unſer Gefuͤhl in einem ſolchen Augenblick iſt zu
ſichtbar mit einer gewißen Wehmuth gemiſcht, als daß
ſich dieſe Quelle deſſelben verkennen lieſſe. In dem Kinde
iſt die Anlage und Beſtimmung, in uns iſt die
Erfuͤllung dargeſtellt, welche immer unendlich weit
hinter jener zuruͤckbleibt. Das Kind iſt uns daher eine
Vergegenwaͤrtigung des Ideals, nicht zwar des erfuͤll-
ten, aber des aufgegebenen, und es iſt alſo keinesweges
die Vorſtellung ſeiner Beduͤrftigkeit und Schranken, es
iſt ganz im Gegentheil die Vorſtellung ſeiner reinen und
freyen Kraft, ſeiner Integritaͤt, ſeiner Unendlichkeit, was
uns ruͤhrt. Dem Menſchen von Sittlichkeit und Em-
pfindung wird ein Kind deswegen ein heiliger Gegen-
ſtand ſeyn, ein Gegenſtand nehmlich, der durch die Groͤße
einer Idee jede Groͤße der Erfahrung vernichtet; und
der, was er auch in der Beurtheilung des Verſtandes
verlieren mag; in der Beurtheilung der Vernunft wie-
der in reichem Maaße gewinnt.

Eben aus dieſem Widerſpruch zwiſchen dem Urtheile
der Vernunft und des Verſtandes geht die ganze eigene
Erſcheinung des gemiſchten Gefuͤhls hervor, welches das
Naive der Denkart in uns erreget. Es verbindet die
kindliche Einfalt mit der kindiſchen; durch die
letztere giebt es dem Verſtand eine Bloͤße und bewirkt
jenes Laͤcheln, wodurch wir unſre (theoretiſche)
Ueberlegenheit zu erkennen geben. Sobald wir aber
Urſache haben zu glauben, daß die kindiſche Einfalt zu-
gleich eine kindliche ſey, daß folglich nicht Unverſtand,
nicht theoretiſches Unvermoͤgen, ſondern eine hoͤhere
praktiſche Staͤrke, ein Herz voll Unſchuld und Wahr-
heit, die Quelle davon ſey, welches die Huͤlfe der Kunſt

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[48/0016] und unſer Gefuͤhl in einem ſolchen Augenblick iſt zu ſichtbar mit einer gewißen Wehmuth gemiſcht, als daß ſich dieſe Quelle deſſelben verkennen lieſſe. In dem Kinde iſt die Anlage und Beſtimmung, in uns iſt die Erfuͤllung dargeſtellt, welche immer unendlich weit hinter jener zuruͤckbleibt. Das Kind iſt uns daher eine Vergegenwaͤrtigung des Ideals, nicht zwar des erfuͤll- ten, aber des aufgegebenen, und es iſt alſo keinesweges die Vorſtellung ſeiner Beduͤrftigkeit und Schranken, es iſt ganz im Gegentheil die Vorſtellung ſeiner reinen und freyen Kraft, ſeiner Integritaͤt, ſeiner Unendlichkeit, was uns ruͤhrt. Dem Menſchen von Sittlichkeit und Em- pfindung wird ein Kind deswegen ein heiliger Gegen- ſtand ſeyn, ein Gegenſtand nehmlich, der durch die Groͤße einer Idee jede Groͤße der Erfahrung vernichtet; und der, was er auch in der Beurtheilung des Verſtandes verlieren mag; in der Beurtheilung der Vernunft wie- der in reichem Maaße gewinnt. Eben aus dieſem Widerſpruch zwiſchen dem Urtheile der Vernunft und des Verſtandes geht die ganze eigene Erſcheinung des gemiſchten Gefuͤhls hervor, welches das Naive der Denkart in uns erreget. Es verbindet die kindliche Einfalt mit der kindiſchen; durch die letztere giebt es dem Verſtand eine Bloͤße und bewirkt jenes Laͤcheln, wodurch wir unſre (theoretiſche) Ueberlegenheit zu erkennen geben. Sobald wir aber Urſache haben zu glauben, daß die kindiſche Einfalt zu- gleich eine kindliche ſey, daß folglich nicht Unverſtand, nicht theoretiſches Unvermoͤgen, ſondern eine hoͤhere praktiſche Staͤrke, ein Herz voll Unſchuld und Wahr- heit, die Quelle davon ſey, welches die Huͤlfe der Kunſt

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/16>, abgerufen am 29.03.2024.