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Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124.

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Vier und zwanzigster Brief.

Es lassen sich also drey verschiedene Momente oder Stuffen der Entwicklung unterscheiden, die sowohl der einzelne Mensch als die ganze Gattung nothwendig und in einer bestimmten Ordnung durchlaufen müssen, wenn sie den ganzen Kreis ihrer Bestimmung erfüllen sollen. Durch zufällige Ursachen, die entweder in dem Einfluß der äusern Dinge oder in der freyen Willkühr des Menschen liegen, können zwar die einzelnen Perioden bald verlängert, bald abgekürzt, aber keine kann ganz übersprungen, und auch die Ordnung, in welcher sie auf einander folgen, kann weder durch die Natur, noch durch den Willen umgekehrt werden. Der Mensch in seinem physischen Zustand erleidet bloß die Macht der Natur; er entledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem moralischen.

Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freye Lust ihm entlockt, und die ruhige Form das wilde Leben besänftigt? Ewig einförmig in seinen Zwecken, ewig wechselnd in seinen Urtheilen, selbstsüchtig, ohne Er selbst zu seyn, ungebunden ohne frey zu seyn, Sklave ohne einer Regel zu dienen. In dieser Epoche ist ihm die Welt bloß Schicksal, noch nicht Gegenstand; alles hat nur Existenz für ihn, insofern es ihm Existenz verschaft, was ihm weder giebt noch nimmt, ist ihm gar nicht vorhanden. Einzeln und abgeschnitten, wie er sich selbst in der Reyhe der Wesen findet, steht jede Erscheinung vor ihm da. Alles, was ist, ist ihm durch das

Vier und zwanzigster Brief.

Es lassen sich also drey verschiedene Momente oder Stuffen der Entwicklung unterscheiden, die sowohl der einzelne Mensch als die ganze Gattung nothwendig und in einer bestimmten Ordnung durchlaufen müssen, wenn sie den ganzen Kreis ihrer Bestimmung erfüllen sollen. Durch zufällige Ursachen, die entweder in dem Einfluß der äusern Dinge oder in der freyen Willkühr des Menschen liegen, können zwar die einzelnen Perioden bald verlängert, bald abgekürzt, aber keine kann ganz übersprungen, und auch die Ordnung, in welcher sie auf einander folgen, kann weder durch die Natur, noch durch den Willen umgekehrt werden. Der Mensch in seinem physischen Zustand erleidet bloß die Macht der Natur; er entledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem moralischen.

Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freye Lust ihm entlockt, und die ruhige Form das wilde Leben besänftigt? Ewig einförmig in seinen Zwecken, ewig wechselnd in seinen Urtheilen, selbstsüchtig, ohne Er selbst zu seyn, ungebunden ohne frey zu seyn, Sklave ohne einer Regel zu dienen. In dieser Epoche ist ihm die Welt bloß Schicksal, noch nicht Gegenstand; alles hat nur Existenz für ihn, insofern es ihm Existenz verschaft, was ihm weder giebt noch nimmt, ist ihm gar nicht vorhanden. Einzeln und abgeschnitten, wie er sich selbst in der Reyhe der Wesen findet, steht jede Erscheinung vor ihm da. Alles, was ist, ist ihm durch das

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[86/0042] Vier und zwanzigster Brief. Es lassen sich also drey verschiedene Momente oder Stuffen der Entwicklung unterscheiden, die sowohl der einzelne Mensch als die ganze Gattung nothwendig und in einer bestimmten Ordnung durchlaufen müssen, wenn sie den ganzen Kreis ihrer Bestimmung erfüllen sollen. Durch zufällige Ursachen, die entweder in dem Einfluß der äusern Dinge oder in der freyen Willkühr des Menschen liegen, können zwar die einzelnen Perioden bald verlängert, bald abgekürzt, aber keine kann ganz übersprungen, und auch die Ordnung, in welcher sie auf einander folgen, kann weder durch die Natur, noch durch den Willen umgekehrt werden. Der Mensch in seinem physischen Zustand erleidet bloß die Macht der Natur; er entledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem moralischen. Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freye Lust ihm entlockt, und die ruhige Form das wilde Leben besänftigt? Ewig einförmig in seinen Zwecken, ewig wechselnd in seinen Urtheilen, selbstsüchtig, ohne Er selbst zu seyn, ungebunden ohne frey zu seyn, Sklave ohne einer Regel zu dienen. In dieser Epoche ist ihm die Welt bloß Schicksal, noch nicht Gegenstand; alles hat nur Existenz für ihn, insofern es ihm Existenz verschaft, was ihm weder giebt noch nimmt, ist ihm gar nicht vorhanden. Einzeln und abgeschnitten, wie er sich selbst in der Reyhe der Wesen findet, steht jede Erscheinung vor ihm da. Alles, was ist, ist ihm durch das

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124, hier S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung03_1795/42>, abgerufen am 19.04.2024.