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Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94.

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nachdem sich der Spieltrieb entweder dem Sachtriebe oder dem Formtriebe nähert, wird auch das Schöne entweder mehr an das blosse Leben oder an die blosse Gestalt grenzen, und man wird niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen auf dem nehmlichen Wege sucht, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt. Wenn sich die griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia an den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der Gelenkigkeit und an dem edleren Wechselstreit der Talente ergötzen, und wenn das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators oder seines libyschen Gegners sich labt, so wird es uns auf diesem einzigen Zuge begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer Venus, einer Juno, eines Apolls nicht in Rom, sondern in Griechenland aufsuchen müssen.* Nun spricht aber die Vernunft: das Schöne soll nicht blosses Leben und nicht blosse Gestalt, sondern lebende Gestalt, das ist, Schönheit seyn; indem sie ja dem Menschen das doppelte Gesetz der absoluten Formalität und der absoluten Realität diktiert. Mithin thut sie auch den Ausspruch: der

* Wenn man (um bey der neuern Welt stehen zu bleiben) die Wettrennen in London, die Stiergefechte in Madrid, die Spectacles in dem ehemaligen Paris, die Gondelrennen in Venedig, die Tierhatzen in Wien, und das frohe schöne Leben des Korso in Rom gegeneinander hält, so kann es nicht schwer seyn, den Geschmack dieser verschiedenen Völker gegeneinander zu nüancieren. Indessen zeigt sich unter den Volksspielen in diesen verschiedenen Ländern weit weniger Einförmigkeit als unter den Spielen der feineren Welt in eben diesen Ländern, welches leicht zu erklären ist.

nachdem sich der Spieltrieb entweder dem Sachtriebe oder dem Formtriebe nähert, wird auch das Schöne entweder mehr an das blosse Leben oder an die blosse Gestalt grenzen, und man wird niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen auf dem nehmlichen Wege sucht, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt. Wenn sich die griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia an den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der Gelenkigkeit und an dem edleren Wechselstreit der Talente ergötzen, und wenn das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators oder seines libyschen Gegners sich labt, so wird es uns auf diesem einzigen Zuge begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer Venus, einer Juno, eines Apolls nicht in Rom, sondern in Griechenland aufsuchen müssen.* Nun spricht aber die Vernunft: das Schöne soll nicht blosses Leben und nicht blosse Gestalt, sondern lebende Gestalt, das ist, Schönheit seyn; indem sie ja dem Menschen das doppelte Gesetz der absoluten Formalität und der absoluten Realität diktiert. Mithin thut sie auch den Ausspruch: der

* Wenn man (um bey der neuern Welt stehen zu bleiben) die Wettrennen in London, die Stiergefechte in Madrid, die Spectacles in dem ehemaligen Paris, die Gondelrennen in Venedig, die Tierhatzen in Wien, und das frohe schöne Leben des Korso in Rom gegeneinander hält, so kann es nicht schwer seyn, den Geschmack dieser verschiedenen Völker gegeneinander zu nüancieren. Indessen zeigt sich unter den Volksspielen in diesen verschiedenen Ländern weit weniger Einförmigkeit als unter den Spielen der feineren Welt in eben diesen Ländern, welches leicht zu erklären ist.
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[87/0037] nachdem sich der Spieltrieb entweder dem Sachtriebe oder dem Formtriebe nähert, wird auch das Schöne entweder mehr an das blosse Leben oder an die blosse Gestalt grenzen, und man wird niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen auf dem nehmlichen Wege sucht, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt. Wenn sich die griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia an den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der Gelenkigkeit und an dem edleren Wechselstreit der Talente ergötzen, und wenn das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators oder seines libyschen Gegners sich labt, so wird es uns auf diesem einzigen Zuge begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer Venus, einer Juno, eines Apolls nicht in Rom, sondern in Griechenland aufsuchen müssen. * Nun spricht aber die Vernunft: das Schöne soll nicht blosses Leben und nicht blosse Gestalt, sondern lebende Gestalt, das ist, Schönheit seyn; indem sie ja dem Menschen das doppelte Gesetz der absoluten Formalität und der absoluten Realität diktiert. Mithin thut sie auch den Ausspruch: der * Wenn man (um bey der neuern Welt stehen zu bleiben) die Wettrennen in London, die Stiergefechte in Madrid, die Spectacles in dem ehemaligen Paris, die Gondelrennen in Venedig, die Tierhatzen in Wien, und das frohe schöne Leben des Korso in Rom gegeneinander hält, so kann es nicht schwer seyn, den Geschmack dieser verschiedenen Völker gegeneinander zu nüancieren. Indessen zeigt sich unter den Volksspielen in diesen verschiedenen Ländern weit weniger Einförmigkeit als unter den Spielen der feineren Welt in eben diesen Ländern, welches leicht zu erklären ist.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94, hier S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/37>, abgerufen am 28.03.2024.