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Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94.

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Wird nehmlich der Sachtrieb bestimmend, macht der Sinn den Gesetzgeber, und unterdrückt die Welt die Per-

wir höchlich darüber, daß so viele Augen bey so hellem Tag nichts bemerkt haben sollen. Dieses voreilige Streben nach Harmonie, ehe man die einzelnen Laute beysammen hat, die sie ausmachen sollen, diese gewalttätige Usurpation der Denkkraft in einem Gebiete, wo sie durchaus nichts zu sagen hat, ist der Grund der Unfruchtbarkeit so vieler denkenden Köpfe für das Beßte der Wissenschaft, und es ist schwer zu sagen, ob die Sinnlichkeit, welche keine Form annimmt, oder die Vernunft, welche keinen Innhalt abwartet, der Erweiterung unserer Kenntnisse mehr geschadet haben.
Eben so schwer dürfte es zu bestimmen seyn, ob unsre praktische Philanthropie mehr durch die Heftigkeit unsrer Begierden, oder durch die Rigidität unsrer Grundsätze, mehr durch den Egoism unserer Sinne, oder durch den Egoism unserer Vernunft gestört und erkältet wird. Um uns zu theilnehmenden, hülfreichen, thätigen Menschen zu machen, müssen sich Gefühl und Charakter miteinander vereinigen, so wie, um uns Erfahrung zu verschaffen, Offenheit des Sinnes mit Energie des Verstandes zusammentreffen muß. Wie können wir bey noch so lobenswürdigen Maximen, billig, gütig und menschlich gegen andere seyn, wenn uns das Vermögen fehlt, fremde Natur treu und wahr in uns aufzunehmen, fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den unsrigen zu machen? Dieses Vermögen aber wird, sowohl in der Erziehung, die wir empfangen, als in

Wird nehmlich der Sachtrieb bestimmend, macht der Sinn den Gesetzgeber, und unterdrückt die Welt die Per-

wir höchlich darüber, daß so viele Augen bey so hellem Tag nichts bemerkt haben sollen. Dieses voreilige Streben nach Harmonie, ehe man die einzelnen Laute beysammen hat, die sie ausmachen sollen, diese gewalttätige Usurpation der Denkkraft in einem Gebiete, wo sie durchaus nichts zu sagen hat, ist der Grund der Unfruchtbarkeit so vieler denkenden Köpfe für das Beßte der Wissenschaft, und es ist schwer zu sagen, ob die Sinnlichkeit, welche keine Form annimmt, oder die Vernunft, welche keinen Innhalt abwartet, der Erweiterung unserer Kenntnisse mehr geschadet haben.
Eben so schwer dürfte es zu bestimmen seyn, ob unsre praktische Philanthropie mehr durch die Heftigkeit unsrer Begierden, oder durch die Rigidität unsrer Grundsätze, mehr durch den Egoism unserer Sinne, oder durch den Egoism unserer Vernunft gestört und erkältet wird. Um uns zu theilnehmenden, hülfreichen, thätigen Menschen zu machen, müssen sich Gefühl und Charakter miteinander vereinigen, so wie, um uns Erfahrung zu verschaffen, Offenheit des Sinnes mit Energie des Verstandes zusammentreffen muß. Wie können wir bey noch so lobenswürdigen Maximen, billig, gütig und menschlich gegen andere seyn, wenn uns das Vermögen fehlt, fremde Natur treu und wahr in uns aufzunehmen, fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den unsrigen zu machen? Dieses Vermögen aber wird, sowohl in der Erziehung, die wir empfangen, als in
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[74/0024] Wird nehmlich der Sachtrieb bestimmend, macht der Sinn den Gesetzgeber, und unterdrückt die Welt die Per- * * wir höchlich darüber, daß so viele Augen bey so hellem Tag nichts bemerkt haben sollen. Dieses voreilige Streben nach Harmonie, ehe man die einzelnen Laute beysammen hat, die sie ausmachen sollen, diese gewalttätige Usurpation der Denkkraft in einem Gebiete, wo sie durchaus nichts zu sagen hat, ist der Grund der Unfruchtbarkeit so vieler denkenden Köpfe für das Beßte der Wissenschaft, und es ist schwer zu sagen, ob die Sinnlichkeit, welche keine Form annimmt, oder die Vernunft, welche keinen Innhalt abwartet, der Erweiterung unserer Kenntnisse mehr geschadet haben. Eben so schwer dürfte es zu bestimmen seyn, ob unsre praktische Philanthropie mehr durch die Heftigkeit unsrer Begierden, oder durch die Rigidität unsrer Grundsätze, mehr durch den Egoism unserer Sinne, oder durch den Egoism unserer Vernunft gestört und erkältet wird. Um uns zu theilnehmenden, hülfreichen, thätigen Menschen zu machen, müssen sich Gefühl und Charakter miteinander vereinigen, so wie, um uns Erfahrung zu verschaffen, Offenheit des Sinnes mit Energie des Verstandes zusammentreffen muß. Wie können wir bey noch so lobenswürdigen Maximen, billig, gütig und menschlich gegen andere seyn, wenn uns das Vermögen fehlt, fremde Natur treu und wahr in uns aufzunehmen, fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den unsrigen zu machen? Dieses Vermögen aber wird, sowohl in der Erziehung, die wir empfangen, als in

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94, hier S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/24>, abgerufen am 29.03.2024.