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Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48.

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Formeln eingeengt, mußte das freye Ganze sich aus den Augen gerückt sehen, und zugleich mit seiner Sphäre verarmen. So wie ersterer versucht wird, das Wirkliche nach dem Denkbaren zu modeln, und die subjektiven Bedingungen seiner Vorstellungskraft zu konstitutiven Gesetzen für das Daseyn der Dinge zu erheben, so stürzte letzterer in das entgegen stehende Extrem, alle Erfahrung überhaupt nach einem besondern Fragment von Erfahrung zu schätzen, und die Regeln seines Geschäfts jedem Geschäft ohne Unterschied anpassen zu wollen. Der eine mußte einer leeren Subtilität, der andre einer pedantischen Beschränktheit zum Raube werden, weil jener für das Einzelne zu hoch, dieser zu tief für das Ganze stand. Aber das Nachtheilige dieser Geistesrichtung schränkte sich nicht bloß auf das Wissen und Hervorbringen ein; es erstreckte sich nicht weniger auf das Empfinden und Handeln. Wir wissen, daß die Sensibilität des Gemüths ihrem Grade nach von der Lebhaftigkeit, ihrem Umfange nach, von dem Reichthum der Einbildungskraft abhängt. Nun muß aber das Uebergewicht des analytischen Vermögens die Phantasie nothwendig ihrer Kraft und ihres Feuers berauben, und eine eingeschränktere Sphäre von Objekten ihren Reichthum vermindern. Der abstrakte Denker hat daher gar oft ein kaltes Herz, weil er die Eindrücke zergliedert, die doch nur als ein Ganzes die Seele rühren; der Geschäftsmann hat gar oft ein enges Herz, weil seine Einbildungskraft, in den einförmigen Kreis seines Berufs eingeschlossen, sich zu fremder Vorstellungsart nicht erweitern kann.

Es lag auf meinem Wege, die nachtheilige Richtung des ZeitCharakters und ihre Quellen aufzudecken, nicht

Formeln eingeengt, mußte das freye Ganze sich aus den Augen gerückt sehen, und zugleich mit seiner Sphäre verarmen. So wie ersterer versucht wird, das Wirkliche nach dem Denkbaren zu modeln, und die subjektiven Bedingungen seiner Vorstellungskraft zu konstitutiven Gesetzen für das Daseyn der Dinge zu erheben, so stürzte letzterer in das entgegen stehende Extrem, alle Erfahrung überhaupt nach einem besondern Fragment von Erfahrung zu schätzen, und die Regeln seines Geschäfts jedem Geschäft ohne Unterschied anpassen zu wollen. Der eine mußte einer leeren Subtilität, der andre einer pedantischen Beschränktheit zum Raube werden, weil jener für das Einzelne zu hoch, dieser zu tief für das Ganze stand. Aber das Nachtheilige dieser Geistesrichtung schränkte sich nicht bloß auf das Wissen und Hervorbringen ein; es erstreckte sich nicht weniger auf das Empfinden und Handeln. Wir wissen, daß die Sensibilität des Gemüths ihrem Grade nach von der Lebhaftigkeit, ihrem Umfange nach, von dem Reichthum der Einbildungskraft abhängt. Nun muß aber das Uebergewicht des analytischen Vermögens die Phantasie nothwendig ihrer Kraft und ihres Feuers berauben, und eine eingeschränktere Sphäre von Objekten ihren Reichthum vermindern. Der abstrakte Denker hat daher gar oft ein kaltes Herz, weil er die Eindrücke zergliedert, die doch nur als ein Ganzes die Seele rühren; der Geschäftsmann hat gar oft ein enges Herz, weil seine Einbildungskraft, in den einförmigen Kreis seines Berufs eingeschlossen, sich zu fremder Vorstellungsart nicht erweitern kann.

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Formeln eingeengt, mußte das freye Ganze sich aus den Augen gerückt sehen, und zugleich mit seiner Sphäre verarmen. So wie ersterer versucht wird, das Wirkliche nach dem Denkbaren zu modeln, und die subjektiven Bedingungen seiner Vorstellungskraft zu konstitutiven Gesetzen für das Daseyn der Dinge zu erheben, so stürzte letzterer in das entgegen stehende Extrem, alle Erfahrung überhaupt nach einem besondern Fragment von Erfahrung zu schätzen, und die Regeln <hi rendition="#g">seines</hi> Geschäfts jedem Geschäft ohne Unterschied anpassen zu wollen. Der eine mußte einer leeren Subtilität, der andre einer pedantischen Beschränktheit zum Raube werden, weil jener für das Einzelne zu hoch, dieser zu tief für das Ganze stand. Aber das Nachtheilige dieser Geistesrichtung schränkte sich nicht bloß auf das Wissen und Hervorbringen ein; es erstreckte sich nicht weniger auf das Empfinden und Handeln. Wir wissen, daß die Sensibilität des Gemüths ihrem Grade nach von der Lebhaftigkeit, ihrem Umfange nach, von dem Reichthum der Einbildungskraft abhängt. Nun muß aber das Uebergewicht des analytischen Vermögens die Phantasie nothwendig ihrer Kraft und ihres Feuers berauben, und eine eingeschränktere Sphäre von Objekten ihren Reichthum vermindern. Der abstrakte Denker hat daher gar oft ein <hi rendition="#g">kaltes</hi> Herz, weil er die Eindrücke zergliedert, die doch nur als ein Ganzes die Seele rühren; der Geschäftsmann hat gar oft ein <hi rendition="#g">enges</hi> Herz, weil seine Einbildungskraft, in den einförmigen Kreis seines Berufs eingeschlossen, sich zu fremder Vorstellungsart nicht erweitern kann.</p>
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[31/0025] Formeln eingeengt, mußte das freye Ganze sich aus den Augen gerückt sehen, und zugleich mit seiner Sphäre verarmen. So wie ersterer versucht wird, das Wirkliche nach dem Denkbaren zu modeln, und die subjektiven Bedingungen seiner Vorstellungskraft zu konstitutiven Gesetzen für das Daseyn der Dinge zu erheben, so stürzte letzterer in das entgegen stehende Extrem, alle Erfahrung überhaupt nach einem besondern Fragment von Erfahrung zu schätzen, und die Regeln seines Geschäfts jedem Geschäft ohne Unterschied anpassen zu wollen. Der eine mußte einer leeren Subtilität, der andre einer pedantischen Beschränktheit zum Raube werden, weil jener für das Einzelne zu hoch, dieser zu tief für das Ganze stand. Aber das Nachtheilige dieser Geistesrichtung schränkte sich nicht bloß auf das Wissen und Hervorbringen ein; es erstreckte sich nicht weniger auf das Empfinden und Handeln. Wir wissen, daß die Sensibilität des Gemüths ihrem Grade nach von der Lebhaftigkeit, ihrem Umfange nach, von dem Reichthum der Einbildungskraft abhängt. Nun muß aber das Uebergewicht des analytischen Vermögens die Phantasie nothwendig ihrer Kraft und ihres Feuers berauben, und eine eingeschränktere Sphäre von Objekten ihren Reichthum vermindern. Der abstrakte Denker hat daher gar oft ein kaltes Herz, weil er die Eindrücke zergliedert, die doch nur als ein Ganzes die Seele rühren; der Geschäftsmann hat gar oft ein enges Herz, weil seine Einbildungskraft, in den einförmigen Kreis seines Berufs eingeschlossen, sich zu fremder Vorstellungsart nicht erweitern kann. Es lag auf meinem Wege, die nachtheilige Richtung des ZeitCharakters und ihre Quellen aufzudecken, nicht

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48, hier S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/25>, abgerufen am 29.03.2024.