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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vorlesungen über die Methode des academischen Studium. Tübingen, 1803.

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ewig jung waren, so war die moderne Welt
dagegen in ihrer Jugend schon alt und er¬
fahren.

Das Studium der Wissenschaften wie
der Künste in ihrer historischen Entwicklung
ist zu einer Art der Religion geworden: in
ihrer Geschichte erkennt der Philosoph noch
unenthüllter gleichsam die Absichten des Welt¬
geistes, die tiefste Wissenschaft, das gründ¬
lichste Genie hat sich in diese Kenntniß er¬
gossen.

Ein anderes ist, das Vergangene selbst
zum Gegenstand der Wissenschaft zu machen,
ein anderes, die Kenntniß davon an die
Stelle des Wissens selbst zu setzen. Durch
das historische Wissen in diesem Sinn wird
der Zugang zu dem Urbild verschlossen; es fragt
sich dann nicht mehr, ob irgend etwas mit
dem An-sich des Wissens, sondern ob es mit
irgend etwas abgeleitetem, welches von jenem
ein bloß unvollkommenes Abbild ist, über¬
einstimme? Aristoteles hatte in seinen Schrif¬
ten die Naturlehre und Naturgeschichte be¬

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ewig jung waren, ſo war die moderne Welt
dagegen in ihrer Jugend ſchon alt und er¬
fahren.

Das Studium der Wiſſenſchaften wie
der Kuͤnſte in ihrer hiſtoriſchen Entwicklung
iſt zu einer Art der Religion geworden: in
ihrer Geſchichte erkennt der Philoſoph noch
unenthuͤllter gleichſam die Abſichten des Welt¬
geiſtes, die tiefſte Wiſſenſchaft, das gruͤnd¬
lichſte Genie hat ſich in dieſe Kenntniß er¬
goſſen.

Ein anderes iſt, das Vergangene ſelbſt
zum Gegenſtand der Wiſſenſchaft zu machen,
ein anderes, die Kenntniß davon an die
Stelle des Wiſſens ſelbſt zu ſetzen. Durch
das hiſtoriſche Wiſſen in dieſem Sinn wird
der Zugang zu dem Urbild verſchloſſen; es fragt
ſich dann nicht mehr, ob irgend etwas mit
dem An-ſich des Wiſſens, ſondern ob es mit
irgend etwas abgeleitetem, welches von jenem
ein bloß unvollkommenes Abbild iſt, uͤber¬
einſtimme? Ariſtoteles hatte in ſeinen Schrif¬
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[35/0044] ewig jung waren, ſo war die moderne Welt dagegen in ihrer Jugend ſchon alt und er¬ fahren. Das Studium der Wiſſenſchaften wie der Kuͤnſte in ihrer hiſtoriſchen Entwicklung iſt zu einer Art der Religion geworden: in ihrer Geſchichte erkennt der Philoſoph noch unenthuͤllter gleichſam die Abſichten des Welt¬ geiſtes, die tiefſte Wiſſenſchaft, das gruͤnd¬ lichſte Genie hat ſich in dieſe Kenntniß er¬ goſſen. Ein anderes iſt, das Vergangene ſelbſt zum Gegenſtand der Wiſſenſchaft zu machen, ein anderes, die Kenntniß davon an die Stelle des Wiſſens ſelbſt zu ſetzen. Durch das hiſtoriſche Wiſſen in dieſem Sinn wird der Zugang zu dem Urbild verſchloſſen; es fragt ſich dann nicht mehr, ob irgend etwas mit dem An-ſich des Wiſſens, ſondern ob es mit irgend etwas abgeleitetem, welches von jenem ein bloß unvollkommenes Abbild iſt, uͤber¬ einſtimme? Ariſtoteles hatte in ſeinen Schrif¬ ten die Naturlehre und Naturgeſchichte be¬ 3 *

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vorlesungen über die Methode des academischen Studium. Tübingen, 1803, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_methode_1803/44>, abgerufen am 29.03.2024.