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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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das vielfach verschlungene Gewebe der Natur zu entwirren und das
Chaos seiner Erscheinungen zu sondern, dieselbe Methode wird uns
auch durch die noch labyrinthischeren Verwicklungen der Kunstwelt
hindurchleiten und über die Gegenstände derselben ein neues Licht ver-
breiten lassen.

Weniger kann ich mir selbst Genüge zu leisten gewiß seyn in An-
sehung der historischen Seite der Kunst, welche, aus Gründen, die
ich in der Folge angeben werde, ein wesentliches Element aller Con-
struktion ist. Ich erkenne zu gut, wie schwierig es ist, in diesem un-
endlichsten aller Gebiete auch nur die allgemeinsten Kenntnisse über
jeden Theil desselben sich zu erwerben, geschweige denn es über alle
seine Theile bis zur bestimmtesten und genauesten Kenntniß zu bringen.
Was ich allein für mich anführen kann, ist, daß ich das Studium der
alten und neueren Werke der Poesie eine lange Zeit mit Ernst betrieben
und es zu meinem angelegentlichen Geschäft gemacht habe, daß ich einige
Anschauung von Werken der bildenden Kunst gehabt habe, daß ich im
Umgang mit ausübenden Künstlern zum Theil zwar nur ihre eigne
Uneinigkeit und ihr Nichtverstehen der Sache kennen gelernt, zum Theil
aber auch im Umgang mit solchen, die außer der glücklichen Ausübung
der Kunst auch noch über sie philosophisch gedacht haben, mir einen
Theil derjenigen historischen Ansichten der Kunst erworben habe, die
ich zu meinem Zwecke nothwendig glaube.

Für diejenigen, die mein System der Philosophie kennen, wird
die Philosophie der Kunst nur die Wiederholung desselben in der höch-
sten Potenz seyn, denjenigen, die es noch nicht kennen, wird die Methode
desselben in dieser Anwendung vielleicht nur noch in die Augen springen-
der und deutlicher seyn.

Die Construktion wird sich nicht bloß auf das Allgemeine, sondern
auch bis auf diejenigen Individuen erstrecken, welche für eine ganze
Gattung gelten; ich werde sie und die Welt ihrer Poesie construiren.
Ich nenne vorläufig nur Homer, Dante, Shakespeare. In der Lehre
von den bildenden Künsten werden die Individualitäten der größten
Meister im Allgemeinen charakterisirt werden; in der Lehre von der

das vielfach verſchlungene Gewebe der Natur zu entwirren und das
Chaos ſeiner Erſcheinungen zu ſondern, dieſelbe Methode wird uns
auch durch die noch labyrinthiſcheren Verwicklungen der Kunſtwelt
hindurchleiten und über die Gegenſtände derſelben ein neues Licht ver-
breiten laſſen.

Weniger kann ich mir ſelbſt Genüge zu leiſten gewiß ſeyn in An-
ſehung der hiſtoriſchen Seite der Kunſt, welche, aus Gründen, die
ich in der Folge angeben werde, ein weſentliches Element aller Con-
ſtruktion iſt. Ich erkenne zu gut, wie ſchwierig es iſt, in dieſem un-
endlichſten aller Gebiete auch nur die allgemeinſten Kenntniſſe über
jeden Theil deſſelben ſich zu erwerben, geſchweige denn es über alle
ſeine Theile bis zur beſtimmteſten und genaueſten Kenntniß zu bringen.
Was ich allein für mich anführen kann, iſt, daß ich das Studium der
alten und neueren Werke der Poeſie eine lange Zeit mit Ernſt betrieben
und es zu meinem angelegentlichen Geſchäft gemacht habe, daß ich einige
Anſchauung von Werken der bildenden Kunſt gehabt habe, daß ich im
Umgang mit ausübenden Künſtlern zum Theil zwar nur ihre eigne
Uneinigkeit und ihr Nichtverſtehen der Sache kennen gelernt, zum Theil
aber auch im Umgang mit ſolchen, die außer der glücklichen Ausübung
der Kunſt auch noch über ſie philoſophiſch gedacht haben, mir einen
Theil derjenigen hiſtoriſchen Anſichten der Kunſt erworben habe, die
ich zu meinem Zwecke nothwendig glaube.

Für diejenigen, die mein Syſtem der Philoſophie kennen, wird
die Philoſophie der Kunſt nur die Wiederholung deſſelben in der höch-
ſten Potenz ſeyn, denjenigen, die es noch nicht kennen, wird die Methode
deſſelben in dieſer Anwendung vielleicht nur noch in die Augen ſpringen-
der und deutlicher ſeyn.

Die Conſtruktion wird ſich nicht bloß auf das Allgemeine, ſondern
auch bis auf diejenigen Individuen erſtrecken, welche für eine ganze
Gattung gelten; ich werde ſie und die Welt ihrer Poeſie conſtruiren.
Ich nenne vorläufig nur Homer, Dante, Shakeſpeare. In der Lehre
von den bildenden Künſten werden die Individualitäten der größten
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[363/0039] das vielfach verſchlungene Gewebe der Natur zu entwirren und das Chaos ſeiner Erſcheinungen zu ſondern, dieſelbe Methode wird uns auch durch die noch labyrinthiſcheren Verwicklungen der Kunſtwelt hindurchleiten und über die Gegenſtände derſelben ein neues Licht ver- breiten laſſen. Weniger kann ich mir ſelbſt Genüge zu leiſten gewiß ſeyn in An- ſehung der hiſtoriſchen Seite der Kunſt, welche, aus Gründen, die ich in der Folge angeben werde, ein weſentliches Element aller Con- ſtruktion iſt. Ich erkenne zu gut, wie ſchwierig es iſt, in dieſem un- endlichſten aller Gebiete auch nur die allgemeinſten Kenntniſſe über jeden Theil deſſelben ſich zu erwerben, geſchweige denn es über alle ſeine Theile bis zur beſtimmteſten und genaueſten Kenntniß zu bringen. Was ich allein für mich anführen kann, iſt, daß ich das Studium der alten und neueren Werke der Poeſie eine lange Zeit mit Ernſt betrieben und es zu meinem angelegentlichen Geſchäft gemacht habe, daß ich einige Anſchauung von Werken der bildenden Kunſt gehabt habe, daß ich im Umgang mit ausübenden Künſtlern zum Theil zwar nur ihre eigne Uneinigkeit und ihr Nichtverſtehen der Sache kennen gelernt, zum Theil aber auch im Umgang mit ſolchen, die außer der glücklichen Ausübung der Kunſt auch noch über ſie philoſophiſch gedacht haben, mir einen Theil derjenigen hiſtoriſchen Anſichten der Kunſt erworben habe, die ich zu meinem Zwecke nothwendig glaube. Für diejenigen, die mein Syſtem der Philoſophie kennen, wird die Philoſophie der Kunſt nur die Wiederholung deſſelben in der höch- ſten Potenz ſeyn, denjenigen, die es noch nicht kennen, wird die Methode deſſelben in dieſer Anwendung vielleicht nur noch in die Augen ſpringen- der und deutlicher ſeyn. Die Conſtruktion wird ſich nicht bloß auf das Allgemeine, ſondern auch bis auf diejenigen Individuen erſtrecken, welche für eine ganze Gattung gelten; ich werde ſie und die Welt ihrer Poeſie conſtruiren. Ich nenne vorläufig nur Homer, Dante, Shakeſpeare. In der Lehre von den bildenden Künſten werden die Individualitäten der größten Meiſter im Allgemeinen charakteriſirt werden; in der Lehre von der

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/39>, abgerufen am 28.03.2024.