Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

noscat ingenium, acremque se et bonorum
et vitiorum suorum judicem praebeat; ne
scenici plus, quam nos, videantur habere
prudentiae. Illi enim non optimas, sed sibi
accommodatissimas fabulas eligunt."

Das Gefühl greift oft der Vernunft vor,
auch bey dem Nachahmungstriebe. Man em-
pfindet einen Reiz etwas nachzuahmen, ohne ge-
prüft zu haben, ob es auch nachahmungswerth
sey. Genug es gefällt uns jetzt, und wir möch-
ten uns gern dasselbe zulegen.

Aber man würde sehr thöricht handeln, wenn
man diesem Reiz des Gefühls sogleich folgen woll-
te. Denn die Ursache, daß uns dies oder jenes
als etwas sehr Gutes vorkommt, liegt nicht immer
in dem Dinge selbst. Es können theils zufällige
Umstände die Ursache davon seyn; zum Beyspiel,
wenn wir uns in einer Gesellschaft geistloser Men-
schen befinden, wo ein geistloser Schwätzer und
Windmacher eine Rolle spielt, kann es uns wohl
vorkommen, als wenn das Schwatzen und Wind-
machen doch wohl keine üble Eigenschaft sey, be-
sonders wenn wir, da wir diese Kunst noch nicht
verstehen, im Hintergrunde stehen müssen. Theils
kann die Ursache davon auch darin liegen, daß
wir den angenehmen Eindruck, welchen das To-
tale
des Betragens oder des Charakters eines
Menschen auf uns macht, einer falschen Ursache,

zum

noſcat ingenium, acremque ſe et bonorum
et vitiorum ſuorum judicem praebeat; ne
ſcenici plus, quam nos, videantur habere
prudentiae. Illi enim non optimas, ſed ſibi
accommodatiſſimas fabulas eligunt.„

Das Gefuͤhl greift oft der Vernunft vor,
auch bey dem Nachahmungstriebe. Man em-
pfindet einen Reiz etwas nachzuahmen, ohne ge-
pruͤft zu haben, ob es auch nachahmungswerth
ſey. Genug es gefaͤllt uns jetzt, und wir moͤch-
ten uns gern daſſelbe zulegen.

Aber man wuͤrde ſehr thoͤricht handeln, wenn
man dieſem Reiz des Gefuͤhls ſogleich folgen woll-
te. Denn die Urſache, daß uns dies oder jenes
als etwas ſehr Gutes vorkommt, liegt nicht immer
in dem Dinge ſelbſt. Es koͤnnen theils zufaͤllige
Umſtaͤnde die Urſache davon ſeyn; zum Beyſpiel,
wenn wir uns in einer Geſellſchaft geiſtloſer Men-
ſchen befinden, wo ein geiſtloſer Schwaͤtzer und
Windmacher eine Rolle ſpielt, kann es uns wohl
vorkommen, als wenn das Schwatzen und Wind-
machen doch wohl keine uͤble Eigenſchaft ſey, be-
ſonders wenn wir, da wir dieſe Kunſt noch nicht
verſtehen, im Hintergrunde ſtehen muͤſſen. Theils
kann die Urſache davon auch darin liegen, daß
wir den angenehmen Eindruck, welchen das To-
tale
des Betragens oder des Charakters eines
Menſchen auf uns macht, einer falſchen Urſache,

zum
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p>
          <pb facs="#f0078" n="362"/> <hi rendition="#aq">no&#x017F;cat ingenium, acremque &#x017F;e et bonorum<lb/>
et vitiorum &#x017F;uorum judicem praebeat; ne<lb/>
&#x017F;cenici plus, quam nos, videantur habere<lb/>
prudentiae. Illi enim non optimas, &#x017F;ed &#x017F;ibi<lb/>
accommodati&#x017F;&#x017F;imas fabulas eligunt.&#x201E;</hi> </p><lb/>
        <p>Das Gefu&#x0364;hl greift oft der Vernunft vor,<lb/>
auch bey dem Nachahmungstriebe. Man em-<lb/>
pfindet einen Reiz etwas nachzuahmen, ohne ge-<lb/>
pru&#x0364;ft zu haben, ob es auch <hi rendition="#b">nachahmungswerth</hi><lb/>
&#x017F;ey. Genug es gefa&#x0364;llt uns jetzt, und wir mo&#x0364;ch-<lb/>
ten uns gern da&#x017F;&#x017F;elbe zulegen.</p><lb/>
        <p>Aber man wu&#x0364;rde &#x017F;ehr tho&#x0364;richt handeln, wenn<lb/>
man die&#x017F;em Reiz des Gefu&#x0364;hls &#x017F;ogleich folgen woll-<lb/>
te. Denn die Ur&#x017F;ache, daß uns dies oder jenes<lb/>
als etwas &#x017F;ehr Gutes vorkommt, liegt nicht immer<lb/>
in dem Dinge &#x017F;elb&#x017F;t. Es ko&#x0364;nnen theils zufa&#x0364;llige<lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nde die Ur&#x017F;ache davon &#x017F;eyn; zum Bey&#x017F;piel,<lb/>
wenn wir uns in einer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft gei&#x017F;tlo&#x017F;er Men-<lb/>
&#x017F;chen befinden, wo ein gei&#x017F;tlo&#x017F;er Schwa&#x0364;tzer und<lb/>
Windmacher eine Rolle &#x017F;pielt, kann es uns wohl<lb/>
vorkommen, als wenn das Schwatzen und Wind-<lb/>
machen doch wohl keine u&#x0364;ble Eigen&#x017F;chaft &#x017F;ey, be-<lb/>
&#x017F;onders wenn wir, da wir die&#x017F;e Kun&#x017F;t noch nicht<lb/>
ver&#x017F;tehen, im Hintergrunde &#x017F;tehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Theils<lb/>
kann die Ur&#x017F;ache davon auch darin liegen, daß<lb/>
wir den angenehmen Eindruck, welchen das <hi rendition="#b">To-<lb/>
tale</hi> des Betragens oder des Charakters eines<lb/>
Men&#x017F;chen auf uns macht, einer fal&#x017F;chen Ur&#x017F;ache,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">zum</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[362/0078] noſcat ingenium, acremque ſe et bonorum et vitiorum ſuorum judicem praebeat; ne ſcenici plus, quam nos, videantur habere prudentiae. Illi enim non optimas, ſed ſibi accommodatiſſimas fabulas eligunt.„ Das Gefuͤhl greift oft der Vernunft vor, auch bey dem Nachahmungstriebe. Man em- pfindet einen Reiz etwas nachzuahmen, ohne ge- pruͤft zu haben, ob es auch nachahmungswerth ſey. Genug es gefaͤllt uns jetzt, und wir moͤch- ten uns gern daſſelbe zulegen. Aber man wuͤrde ſehr thoͤricht handeln, wenn man dieſem Reiz des Gefuͤhls ſogleich folgen woll- te. Denn die Urſache, daß uns dies oder jenes als etwas ſehr Gutes vorkommt, liegt nicht immer in dem Dinge ſelbſt. Es koͤnnen theils zufaͤllige Umſtaͤnde die Urſache davon ſeyn; zum Beyſpiel, wenn wir uns in einer Geſellſchaft geiſtloſer Men- ſchen befinden, wo ein geiſtloſer Schwaͤtzer und Windmacher eine Rolle ſpielt, kann es uns wohl vorkommen, als wenn das Schwatzen und Wind- machen doch wohl keine uͤble Eigenſchaft ſey, be- ſonders wenn wir, da wir dieſe Kunſt noch nicht verſtehen, im Hintergrunde ſtehen muͤſſen. Theils kann die Urſache davon auch darin liegen, daß wir den angenehmen Eindruck, welchen das To- tale des Betragens oder des Charakters eines Menſchen auf uns macht, einer falſchen Urſache, zum

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/78
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/78>, abgerufen am 24.04.2024.