Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Schon hat der fürchterliche Zustand seines
Herzens den Gedanken, durch den Tod denselben
zu endigen, in ihm erregt. Er kann unter Men-
schen nicht mehr weilen, denn auf jedem Gesichte
liest er den Fluch des Verräthers. Er
Ging, und eilte davon, floh der Menschen
Anblick, und riß sich

Aus Jerusalem.

Seine Seele war von schrecklichen Gefühlen
zerrissen. Liebe zum Leben kämpft mit der Angst
des Gewissens und der wüthenden Reue: er
-- stand, itzt ging er! itzt stand er! itzt floh er!
Schaute mit wildem Antlitz umher, ob er Men-
schen erblickte.

Denn er glaubte in jedem seinen Rächer, sei-
nen Verfolger zu sehn, der ihm selbst die schreck-
liche Zuflucht, den Tod nicht vergönnen wollte.
Endlich
Als er keinen erblickte, der Stadt nun stum-
mes Getöse

Ganz sich dem Ohr verlor, beschloß er, zu ster-
ben. --

Nichts rührte nunmehr seine Sinnen -- er
empfand nichts als sich selbst, und in sich die Hölle
des Gewissens. Nichts hielt also seinen Entschluß
auf, zu sterben. Doch ist die Stimme der Na-

tur

Schon hat der fuͤrchterliche Zuſtand ſeines
Herzens den Gedanken, durch den Tod denſelben
zu endigen, in ihm erregt. Er kann unter Men-
ſchen nicht mehr weilen, denn auf jedem Geſichte
lieſt er den Fluch des Verraͤthers. Er
Ging, und eilte davon, floh der Menſchen
Anblick, und riß ſich

Aus Jeruſalem.

Seine Seele war von ſchrecklichen Gefuͤhlen
zerriſſen. Liebe zum Leben kaͤmpft mit der Angſt
des Gewiſſens und der wuͤthenden Reue: er
— ſtand, itzt ging er! itzt ſtand er! itzt floh er!
Schaute mit wildem Antlitz umher, ob er Men-
ſchen erblickte.

Denn er glaubte in jedem ſeinen Raͤcher, ſei-
nen Verfolger zu ſehn, der ihm ſelbſt die ſchreck-
liche Zuflucht, den Tod nicht vergoͤnnen wollte.
Endlich
Als er keinen erblickte, der Stadt nun ſtum-
mes Getoͤſe

Ganz ſich dem Ohr verlor, beſchloß er, zu ſter-
ben. —

Nichts ruͤhrte nunmehr ſeine Sinnen — er
empfand nichts als ſich ſelbſt, und in ſich die Hoͤlle
des Gewiſſens. Nichts hielt alſo ſeinen Entſchluß
auf, zu ſterben. Doch iſt die Stimme der Na-

tur
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0033" n="317"/>
        <p>Schon hat der fu&#x0364;rchterliche Zu&#x017F;tand &#x017F;eines<lb/>
Herzens den Gedanken, durch den Tod den&#x017F;elben<lb/>
zu endigen, in ihm erregt. Er kann unter Men-<lb/>
&#x017F;chen nicht mehr weilen, denn auf jedem Ge&#x017F;ichte<lb/>
lie&#x017F;t er den Fluch des Verra&#x0364;thers. Er<lb/><hi rendition="#et">Ging, und eilte davon, floh der Men&#x017F;chen<lb/><hi rendition="#et">Anblick, und riß &#x017F;ich</hi></hi><lb/>
Aus Jeru&#x017F;alem.</p><lb/>
        <p>Seine Seele war von &#x017F;chrecklichen Gefu&#x0364;hlen<lb/>
zerri&#x017F;&#x017F;en. Liebe zum Leben ka&#x0364;mpft mit der Ang&#x017F;t<lb/>
des Gewi&#x017F;&#x017F;ens und der wu&#x0364;thenden Reue: er<lb/>
&#x2014; &#x017F;tand, itzt ging er! itzt &#x017F;tand er! itzt floh er!<lb/>
Schaute mit wildem Antlitz umher, ob er Men-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;chen erblickte.</hi></p><lb/>
        <p>Denn er glaubte in jedem &#x017F;einen Ra&#x0364;cher, &#x017F;ei-<lb/>
nen Verfolger zu &#x017F;ehn, der ihm &#x017F;elb&#x017F;t die &#x017F;chreck-<lb/>
liche Zuflucht, den Tod nicht vergo&#x0364;nnen wollte.<lb/>
Endlich<lb/><hi rendition="#et">Als er keinen erblickte, der Stadt nun &#x017F;tum-<lb/><hi rendition="#et">mes Geto&#x0364;&#x017F;e</hi></hi><lb/>
Ganz &#x017F;ich dem Ohr verlor, be&#x017F;chloß er, zu &#x017F;ter-<lb/><hi rendition="#et">ben. &#x2014;</hi></p><lb/>
        <p>Nichts ru&#x0364;hrte nunmehr &#x017F;eine Sinnen &#x2014; er<lb/>
empfand nichts als &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, und in &#x017F;ich die Ho&#x0364;lle<lb/>
des Gewi&#x017F;&#x017F;ens. Nichts hielt al&#x017F;o &#x017F;einen Ent&#x017F;chluß<lb/>
auf, zu &#x017F;terben. Doch i&#x017F;t die Stimme der Na-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">tur</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[317/0033] Schon hat der fuͤrchterliche Zuſtand ſeines Herzens den Gedanken, durch den Tod denſelben zu endigen, in ihm erregt. Er kann unter Men- ſchen nicht mehr weilen, denn auf jedem Geſichte lieſt er den Fluch des Verraͤthers. Er Ging, und eilte davon, floh der Menſchen Anblick, und riß ſich Aus Jeruſalem. Seine Seele war von ſchrecklichen Gefuͤhlen zerriſſen. Liebe zum Leben kaͤmpft mit der Angſt des Gewiſſens und der wuͤthenden Reue: er — ſtand, itzt ging er! itzt ſtand er! itzt floh er! Schaute mit wildem Antlitz umher, ob er Men- ſchen erblickte. Denn er glaubte in jedem ſeinen Raͤcher, ſei- nen Verfolger zu ſehn, der ihm ſelbſt die ſchreck- liche Zuflucht, den Tod nicht vergoͤnnen wollte. Endlich Als er keinen erblickte, der Stadt nun ſtum- mes Getoͤſe Ganz ſich dem Ohr verlor, beſchloß er, zu ſter- ben. — Nichts ruͤhrte nunmehr ſeine Sinnen — er empfand nichts als ſich ſelbſt, und in ſich die Hoͤlle des Gewiſſens. Nichts hielt alſo ſeinen Entſchluß auf, zu ſterben. Doch iſt die Stimme der Na- tur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/33
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/33>, abgerufen am 28.03.2024.