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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

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Schöpfung blicken zu können -- die höchste Glück-
seligkeit.

Die Liebe sucht diese Erweiterung in der Ei-
nigung mit Andern; ist sehnliches Verlangen, sein
Jch zu spiegeln, in der materiellen Welt, im
empfindenden Geschöpfe, im Manne, im Wei-
be, in der Gottheit.

Das Thier, das Kind und der sinnliche
Mensch suchen für den Trieb der Erweiterung ih-
res Selbsts Befriedigung auf sinnlichen Wegen.
Das Kind führt alles, was ihm gefällt, dem
Munde zu: das Thier und der sinnliche Mensch
begehren Körpervereinigung.

Der geistige, veredelte Mensch sucht Verei-
nigung im Geist und in der Wahrheit. Das
Ziel seiner Bestrebungen ist nicht äußere Verschlin-
gung der Körper in einander; er will in dem
Herzen des Geliebten leben und weben. Das
Herz des Jünglings schlägt für seine Geliebte, da-
mit ihr Herz für das seinige schlage: das Auge
des Andächtigen schmachtet, und seine Hände
ringen nach der Ueberzeugung, daß Gott in ihm
und er in Gott sey: ein Geist lebt in Johannes
und Jesus; ich, sagte der göttliche Gesandte,
und der Vater sind Eins.

Nur der, dessen Liebe nach einer Vermählung
der Herzen und Geister sich sehnt, findet Genuß;
denn nur Geister und Herzen lassen sich innig mit

ein-

Schoͤpfung blicken zu koͤnnen — die hoͤchſte Gluͤck-
ſeligkeit.

Die Liebe ſucht dieſe Erweiterung in der Ei-
nigung mit Andern; iſt ſehnliches Verlangen, ſein
Jch zu ſpiegeln, in der materiellen Welt, im
empfindenden Geſchoͤpfe, im Manne, im Wei-
be, in der Gottheit.

Das Thier, das Kind und der ſinnliche
Menſch ſuchen fuͤr den Trieb der Erweiterung ih-
res Selbſts Befriedigung auf ſinnlichen Wegen.
Das Kind fuͤhrt alles, was ihm gefaͤllt, dem
Munde zu: das Thier und der ſinnliche Menſch
begehren Koͤrpervereinigung.

Der geiſtige, veredelte Menſch ſucht Verei-
nigung im Geiſt und in der Wahrheit. Das
Ziel ſeiner Beſtrebungen iſt nicht aͤußere Verſchlin-
gung der Koͤrper in einander; er will in dem
Herzen des Geliebten leben und weben. Das
Herz des Juͤnglings ſchlaͤgt fuͤr ſeine Geliebte, da-
mit ihr Herz fuͤr das ſeinige ſchlage: das Auge
des Andaͤchtigen ſchmachtet, und ſeine Haͤnde
ringen nach der Ueberzeugung, daß Gott in ihm
und er in Gott ſey: ein Geiſt lebt in Johannes
und Jeſus; ich, ſagte der goͤttliche Geſandte,
und der Vater ſind Eins.

Nur der, deſſen Liebe nach einer Vermaͤhlung
der Herzen und Geiſter ſich ſehnt, findet Genuß;
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[534/0250] Schoͤpfung blicken zu koͤnnen — die hoͤchſte Gluͤck- ſeligkeit. Die Liebe ſucht dieſe Erweiterung in der Ei- nigung mit Andern; iſt ſehnliches Verlangen, ſein Jch zu ſpiegeln, in der materiellen Welt, im empfindenden Geſchoͤpfe, im Manne, im Wei- be, in der Gottheit. Das Thier, das Kind und der ſinnliche Menſch ſuchen fuͤr den Trieb der Erweiterung ih- res Selbſts Befriedigung auf ſinnlichen Wegen. Das Kind fuͤhrt alles, was ihm gefaͤllt, dem Munde zu: das Thier und der ſinnliche Menſch begehren Koͤrpervereinigung. Der geiſtige, veredelte Menſch ſucht Verei- nigung im Geiſt und in der Wahrheit. Das Ziel ſeiner Beſtrebungen iſt nicht aͤußere Verſchlin- gung der Koͤrper in einander; er will in dem Herzen des Geliebten leben und weben. Das Herz des Juͤnglings ſchlaͤgt fuͤr ſeine Geliebte, da- mit ihr Herz fuͤr das ſeinige ſchlage: das Auge des Andaͤchtigen ſchmachtet, und ſeine Haͤnde ringen nach der Ueberzeugung, daß Gott in ihm und er in Gott ſey: ein Geiſt lebt in Johannes und Jeſus; ich, ſagte der goͤttliche Geſandte, und der Vater ſind Eins. Nur der, deſſen Liebe nach einer Vermaͤhlung der Herzen und Geiſter ſich ſehnt, findet Genuß; denn nur Geiſter und Herzen laſſen ſich innig mit ein-

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/250>, abgerufen am 19.04.2024.