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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

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glücklichen Freund trauert, ob es wohl wünschte,
daß Eurem Freunde das Unglück, das Euer Mit-
leid erregte, nicht begegnet sey? -- O! Jhr
würdet vielleicht die Rettung Eures Freundes mit
allen Euren Gütern erkaufen; aber eben darum
kann Euer Herz nicht wünschen, daß ihn das
Unglück gar nicht betroffen habe, weil Euch sonst
die Freude nicht geworden wäre, Eurem Freun-
de zu beweisen, daß Jhr ihn liebet und Eure
Freundschaft ihm nicht ganz unnütz sey. --

Aber auch dieses Gefühl, das das menschli-
che Herz adelt, und, von Rousseau*) mit
Recht, die Quelle aller menschlichen Tugenden
genannt wird, kann geschwächt und erstickt
werden.

Außer den objektiven Ursachen der Verminde-
rung oder Aufhebung des Mitgefühls, die im Vo-
rigen schon genannt sind, und auch eigentlich hie-
her nicht gehören, nenne ich hier nur Rohheit und
Unempfindlichkeit, und die selbstischen und feind-
seligen Leidenschaften.

Wer einzig für die Befriedigung seiner gro-
ben, sinnlichen Begierden lebt, und durch Bil-
dung seines Herzens den natürlichen Anlagen gar

nicht
*) Discours sur l'origine & les fondemens de l'in-
egalite parmi les hommes. Premiere partie.
S.
91. f. und besonders S. 94. Zweybrücker Ausgabe.
Ll

gluͤcklichen Freund trauert, ob es wohl wuͤnſchte,
daß Eurem Freunde das Ungluͤck, das Euer Mit-
leid erregte, nicht begegnet ſey? — O! Jhr
wuͤrdet vielleicht die Rettung Eures Freundes mit
allen Euren Guͤtern erkaufen; aber eben darum
kann Euer Herz nicht wuͤnſchen, daß ihn das
Ungluͤck gar nicht betroffen habe, weil Euch ſonſt
die Freude nicht geworden waͤre, Eurem Freun-
de zu beweiſen, daß Jhr ihn liebet und Eure
Freundſchaft ihm nicht ganz unnuͤtz ſey. —

Aber auch dieſes Gefuͤhl, das das menſchli-
che Herz adelt, und, von Rouſſeau*) mit
Recht, die Quelle aller menſchlichen Tugenden
genannt wird, kann geſchwaͤcht und erſtickt
werden.

Außer den objektiven Urſachen der Verminde-
rung oder Aufhebung des Mitgefuͤhls, die im Vo-
rigen ſchon genannt ſind, und auch eigentlich hie-
her nicht gehoͤren, nenne ich hier nur Rohheit und
Unempfindlichkeit, und die ſelbſtiſchen und feind-
ſeligen Leidenſchaften.

Wer einzig fuͤr die Befriedigung ſeiner gro-
ben, ſinnlichen Begierden lebt, und durch Bil-
dung ſeines Herzens den natuͤrlichen Anlagen gar

nicht
*) Diſcours ſur l'origine & les fondemens de l'in-
egalité parmi les hommes. Premiere partie.
S.
91. f. und beſonders S. 94. Zweybruͤcker Ausgabe.
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[529/0245] gluͤcklichen Freund trauert, ob es wohl wuͤnſchte, daß Eurem Freunde das Ungluͤck, das Euer Mit- leid erregte, nicht begegnet ſey? — O! Jhr wuͤrdet vielleicht die Rettung Eures Freundes mit allen Euren Guͤtern erkaufen; aber eben darum kann Euer Herz nicht wuͤnſchen, daß ihn das Ungluͤck gar nicht betroffen habe, weil Euch ſonſt die Freude nicht geworden waͤre, Eurem Freun- de zu beweiſen, daß Jhr ihn liebet und Eure Freundſchaft ihm nicht ganz unnuͤtz ſey. — Aber auch dieſes Gefuͤhl, das das menſchli- che Herz adelt, und, von Rouſſeau *) mit Recht, die Quelle aller menſchlichen Tugenden genannt wird, kann geſchwaͤcht und erſtickt werden. Außer den objektiven Urſachen der Verminde- rung oder Aufhebung des Mitgefuͤhls, die im Vo- rigen ſchon genannt ſind, und auch eigentlich hie- her nicht gehoͤren, nenne ich hier nur Rohheit und Unempfindlichkeit, und die ſelbſtiſchen und feind- ſeligen Leidenſchaften. Wer einzig fuͤr die Befriedigung ſeiner gro- ben, ſinnlichen Begierden lebt, und durch Bil- dung ſeines Herzens den natuͤrlichen Anlagen gar nicht *) Diſcours ſur l'origine & les fondemens de l'in- egalité parmi les hommes. Premiere partie. S. 91. f. und beſonders S. 94. Zweybruͤcker Ausgabe. Ll

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/245>, abgerufen am 29.03.2024.