Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

zurück, in welche dieselbe uns selbst einst versetzte.
Keiner fühlt die Freude eines Vaters und einer
Mutter ganz, als den seine eigne Erfahrung sie
lehrte; keiner die Freude über die Befreyung aus
der Sclaverey, als wer einst selbst von derselben
errettet wurde. Der freye Britte bezeugte bey
der französischen Revolution eine Mitfreude, deren
der Spanier nicht fähig war.

Das Objekt wirkt um so stärker auf das
Mitgefühl, je geschickter es ist, in dem Andern
dieselbigen Gefühle zu erzeugen. Diese Geschickt-
heit aber hängt theils von der Reinheit des Aus-
drucks der Gefühle, theils von der Verbindung
des Objekts mit dem sympathisirenden ab.

Je reiner der Ausdruck des Leidens oder der
Freude ist, d. h. je mehr er blos Freude oder
blos Leiden ankündigt, und je weniger er sich
mit den Ausdrücken anderer Gefühle vermischt;
desto weniger Gelegenheit hat die Phantasie das
Gefühl zu zerstreuen, und das Hauptgefühl durch
Nebengefühle zu schwächen oder zu unterdrücken.

Wenn sich unter die Ausdrücke des Leidens,
Ausdrücke von Wuth, Rachgier oder weibischem
Wesen mischen; so hält das Mißvergnügen über
diese Wahrnehmungen das Mitgefühl mit dem Lei-
den von dem Herzen ab, und eben so schwächt
die Unanständigkeit des Ausdrucks, so wie der
Gedanke, daß er dem Leiden nicht angemessen

sey,

zuruͤck, in welche dieſelbe uns ſelbſt einſt verſetzte.
Keiner fuͤhlt die Freude eines Vaters und einer
Mutter ganz, als den ſeine eigne Erfahrung ſie
lehrte; keiner die Freude uͤber die Befreyung aus
der Sclaverey, als wer einſt ſelbſt von derſelben
errettet wurde. Der freye Britte bezeugte bey
der franzoͤſiſchen Revolution eine Mitfreude, deren
der Spanier nicht faͤhig war.

Das Objekt wirkt um ſo ſtaͤrker auf das
Mitgefuͤhl, je geſchickter es iſt, in dem Andern
dieſelbigen Gefuͤhle zu erzeugen. Dieſe Geſchickt-
heit aber haͤngt theils von der Reinheit des Aus-
drucks der Gefuͤhle, theils von der Verbindung
des Objekts mit dem ſympathiſirenden ab.

Je reiner der Ausdruck des Leidens oder der
Freude iſt, d. h. je mehr er blos Freude oder
blos Leiden ankuͤndigt, und je weniger er ſich
mit den Ausdruͤcken anderer Gefuͤhle vermiſcht;
deſto weniger Gelegenheit hat die Phantaſie das
Gefuͤhl zu zerſtreuen, und das Hauptgefuͤhl durch
Nebengefuͤhle zu ſchwaͤchen oder zu unterdruͤcken.

Wenn ſich unter die Ausdruͤcke des Leidens,
Ausdruͤcke von Wuth, Rachgier oder weibiſchem
Weſen miſchen; ſo haͤlt das Mißvergnuͤgen uͤber
dieſe Wahrnehmungen das Mitgefuͤhl mit dem Lei-
den von dem Herzen ab, und eben ſo ſchwaͤcht
die Unanſtaͤndigkeit des Ausdrucks, ſo wie der
Gedanke, daß er dem Leiden nicht angemeſſen

ſey,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0240" n="524"/>
zuru&#x0364;ck, in welche die&#x017F;elbe uns &#x017F;elb&#x017F;t ein&#x017F;t ver&#x017F;etzte.<lb/>
Keiner fu&#x0364;hlt die Freude eines Vaters und einer<lb/>
Mutter ganz, als den &#x017F;eine eigne Erfahrung &#x017F;ie<lb/>
lehrte; keiner die Freude u&#x0364;ber die Befreyung aus<lb/>
der Sclaverey, als wer ein&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t von der&#x017F;elben<lb/>
errettet wurde. Der freye <hi rendition="#b">Britte</hi> bezeugte bey<lb/>
der franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Revolution eine Mitfreude, deren<lb/>
der <hi rendition="#b">Spanier</hi> nicht fa&#x0364;hig war.</p><lb/>
        <p>Das Objekt wirkt um &#x017F;o &#x017F;ta&#x0364;rker auf das<lb/>
Mitgefu&#x0364;hl, je ge&#x017F;chickter es i&#x017F;t, in dem Andern<lb/>
die&#x017F;elbigen Gefu&#x0364;hle zu erzeugen. Die&#x017F;e Ge&#x017F;chickt-<lb/>
heit aber ha&#x0364;ngt theils von der Reinheit des Aus-<lb/>
drucks der Gefu&#x0364;hle, theils von der Verbindung<lb/>
des Objekts mit dem &#x017F;ympathi&#x017F;irenden ab.</p><lb/>
        <p>Je reiner der Ausdruck des Leidens oder der<lb/>
Freude i&#x017F;t, d. h. je mehr er <hi rendition="#b">blos</hi> Freude oder<lb/><hi rendition="#b">blos</hi> Leiden anku&#x0364;ndigt, und je weniger er &#x017F;ich<lb/>
mit den Ausdru&#x0364;cken anderer Gefu&#x0364;hle vermi&#x017F;cht;<lb/>
de&#x017F;to weniger Gelegenheit hat die Phanta&#x017F;ie das<lb/>
Gefu&#x0364;hl zu zer&#x017F;treuen, und das Hauptgefu&#x0364;hl durch<lb/>
Nebengefu&#x0364;hle zu &#x017F;chwa&#x0364;chen oder zu unterdru&#x0364;cken.</p><lb/>
        <p>Wenn &#x017F;ich unter die Ausdru&#x0364;cke des Leidens,<lb/>
Ausdru&#x0364;cke von Wuth, Rachgier oder weibi&#x017F;chem<lb/>
We&#x017F;en mi&#x017F;chen; &#x017F;o ha&#x0364;lt das Mißvergnu&#x0364;gen u&#x0364;ber<lb/>
die&#x017F;e Wahrnehmungen das Mitgefu&#x0364;hl mit dem Lei-<lb/>
den von dem Herzen ab, und eben &#x017F;o &#x017F;chwa&#x0364;cht<lb/>
die Unan&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit des Ausdrucks, &#x017F;o wie der<lb/>
Gedanke, daß er dem Leiden nicht angeme&#x017F;&#x017F;en<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ey,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[524/0240] zuruͤck, in welche dieſelbe uns ſelbſt einſt verſetzte. Keiner fuͤhlt die Freude eines Vaters und einer Mutter ganz, als den ſeine eigne Erfahrung ſie lehrte; keiner die Freude uͤber die Befreyung aus der Sclaverey, als wer einſt ſelbſt von derſelben errettet wurde. Der freye Britte bezeugte bey der franzoͤſiſchen Revolution eine Mitfreude, deren der Spanier nicht faͤhig war. Das Objekt wirkt um ſo ſtaͤrker auf das Mitgefuͤhl, je geſchickter es iſt, in dem Andern dieſelbigen Gefuͤhle zu erzeugen. Dieſe Geſchickt- heit aber haͤngt theils von der Reinheit des Aus- drucks der Gefuͤhle, theils von der Verbindung des Objekts mit dem ſympathiſirenden ab. Je reiner der Ausdruck des Leidens oder der Freude iſt, d. h. je mehr er blos Freude oder blos Leiden ankuͤndigt, und je weniger er ſich mit den Ausdruͤcken anderer Gefuͤhle vermiſcht; deſto weniger Gelegenheit hat die Phantaſie das Gefuͤhl zu zerſtreuen, und das Hauptgefuͤhl durch Nebengefuͤhle zu ſchwaͤchen oder zu unterdruͤcken. Wenn ſich unter die Ausdruͤcke des Leidens, Ausdruͤcke von Wuth, Rachgier oder weibiſchem Weſen miſchen; ſo haͤlt das Mißvergnuͤgen uͤber dieſe Wahrnehmungen das Mitgefuͤhl mit dem Lei- den von dem Herzen ab, und eben ſo ſchwaͤcht die Unanſtaͤndigkeit des Ausdrucks, ſo wie der Gedanke, daß er dem Leiden nicht angemeſſen ſey,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/240
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/240>, abgerufen am 20.04.2024.