Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Herz, um anzudeuten, wie tief er den Schmerz
ihrer Trennung empfände.

Abba-Thulle, der König der guten Jnsu-
laner, faßte zu den Engländern ein so großes
Vertrauen, daß er den Capitain Wilson bat, sei-
nen geliebten Sohn, Li-Bu, mit sich zu neh-
men; damit er in England sich Kenntnisse samm-
le, durch welche er seiner Jnsul nützlich werden
könne. Mit väterlicher Sorgsamkeit empfiehlt er
seinen Geliebten dem englischen Capitain. Am
Abend vor der Abreise fragt er diesen, wie viel
Zeit wohl hingehen möchte, ehe sein Sohn wie-
der nach Pelew zurückkehrte? Als der Capitain
erwiederte, es könnten wohl dreyßig bis sechs und
dreyßig Monden verfließen; so zog Abba-Thulle
eine Schnur aus seinem Handkorb, machte
dreyßig Knoten, und nach einem langen Zwi-
schenraum noch sechs, um seiner väterlichen Sehn-
sucht die Erleichterung zu verschaffen, zu sehen,
daß der Zeitpunkt des Wiedersehens mit jedem
aufgelösten Knoten näher rücke.

Li-Bu war, wie sein Vater, ein Muster
der Menschenliebe und des Edelmuths. Er liebte
den Capitain, dem er anvertraut war, wie seinen
Vater, und nannte die Gattin desselben nie an-
ders, als Mutter. Den Sohn seines Pflege-
vaters, einen liebenswürdigen Jüngling, umfaßte
er mit der zärtlichen Freundschaft. Einst hatte

der

Herz, um anzudeuten, wie tief er den Schmerz
ihrer Trennung empfaͤnde.

Abba-Thulle, der Koͤnig der guten Jnſu-
laner, faßte zu den Englaͤndern ein ſo großes
Vertrauen, daß er den Capitain Wilſon bat, ſei-
nen geliebten Sohn, Li-Bu, mit ſich zu neh-
men; damit er in England ſich Kenntniſſe ſamm-
le, durch welche er ſeiner Jnſul nuͤtzlich werden
koͤnne. Mit vaͤterlicher Sorgſamkeit empfiehlt er
ſeinen Geliebten dem engliſchen Capitain. Am
Abend vor der Abreiſe fragt er dieſen, wie viel
Zeit wohl hingehen moͤchte, ehe ſein Sohn wie-
der nach Pelew zuruͤckkehrte? Als der Capitain
erwiederte, es koͤnnten wohl dreyßig bis ſechs und
dreyßig Monden verfließen; ſo zog Abba-Thulle
eine Schnur aus ſeinem Handkorb, machte
dreyßig Knoten, und nach einem langen Zwi-
ſchenraum noch ſechs, um ſeiner vaͤterlichen Sehn-
ſucht die Erleichterung zu verſchaffen, zu ſehen,
daß der Zeitpunkt des Wiederſehens mit jedem
aufgeloͤſten Knoten naͤher ruͤcke.

Li-Bu war, wie ſein Vater, ein Muſter
der Menſchenliebe und des Edelmuths. Er liebte
den Capitain, dem er anvertraut war, wie ſeinen
Vater, und nannte die Gattin deſſelben nie an-
ders, als Mutter. Den Sohn ſeines Pflege-
vaters, einen liebenswuͤrdigen Juͤngling, umfaßte
er mit der zaͤrtlichen Freundſchaft. Einſt hatte

der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0212" n="496"/>
Herz, um anzudeuten, wie tief er den Schmerz<lb/>
ihrer Trennung empfa&#x0364;nde.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#b">Abba-Thulle</hi>, der Ko&#x0364;nig der guten Jn&#x017F;u-<lb/>
laner, faßte zu den Engla&#x0364;ndern ein &#x017F;o großes<lb/>
Vertrauen, daß er den Capitain <hi rendition="#b">Wil&#x017F;on</hi> bat, &#x017F;ei-<lb/>
nen geliebten Sohn, <hi rendition="#b">Li-Bu</hi>, mit &#x017F;ich zu neh-<lb/>
men; damit er in England &#x017F;ich Kenntni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;amm-<lb/>
le, durch welche er &#x017F;einer Jn&#x017F;ul nu&#x0364;tzlich werden<lb/>
ko&#x0364;nne. Mit va&#x0364;terlicher Sorg&#x017F;amkeit empfiehlt er<lb/>
&#x017F;einen Geliebten dem engli&#x017F;chen Capitain. Am<lb/>
Abend vor der Abrei&#x017F;e fragt er die&#x017F;en, wie viel<lb/>
Zeit wohl hingehen mo&#x0364;chte, ehe &#x017F;ein Sohn wie-<lb/>
der nach Pelew zuru&#x0364;ckkehrte? Als der Capitain<lb/>
erwiederte, es ko&#x0364;nnten wohl dreyßig bis &#x017F;echs und<lb/>
dreyßig Monden verfließen; &#x017F;o zog <hi rendition="#b">Abba-Thulle</hi><lb/>
eine Schnur aus &#x017F;einem Handkorb, machte<lb/>
dreyßig Knoten, und nach einem langen Zwi-<lb/>
&#x017F;chenraum noch &#x017F;echs, um &#x017F;einer va&#x0364;terlichen Sehn-<lb/>
&#x017F;ucht die Erleichterung zu ver&#x017F;chaffen, zu &#x017F;ehen,<lb/>
daß der Zeitpunkt des Wieder&#x017F;ehens mit jedem<lb/>
aufgelo&#x0364;&#x017F;ten Knoten na&#x0364;her ru&#x0364;cke.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#b">Li-Bu</hi> war, wie &#x017F;ein Vater, ein Mu&#x017F;ter<lb/>
der Men&#x017F;chenliebe und des Edelmuths. Er liebte<lb/>
den Capitain, dem er anvertraut war, wie &#x017F;einen<lb/>
Vater, und nannte die Gattin de&#x017F;&#x017F;elben nie an-<lb/>
ders, als Mutter. Den Sohn &#x017F;eines Pflege-<lb/>
vaters, einen liebenswu&#x0364;rdigen Ju&#x0364;ngling, umfaßte<lb/>
er mit der za&#x0364;rtlichen Freund&#x017F;chaft. Ein&#x017F;t hatte<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[496/0212] Herz, um anzudeuten, wie tief er den Schmerz ihrer Trennung empfaͤnde. Abba-Thulle, der Koͤnig der guten Jnſu- laner, faßte zu den Englaͤndern ein ſo großes Vertrauen, daß er den Capitain Wilſon bat, ſei- nen geliebten Sohn, Li-Bu, mit ſich zu neh- men; damit er in England ſich Kenntniſſe ſamm- le, durch welche er ſeiner Jnſul nuͤtzlich werden koͤnne. Mit vaͤterlicher Sorgſamkeit empfiehlt er ſeinen Geliebten dem engliſchen Capitain. Am Abend vor der Abreiſe fragt er dieſen, wie viel Zeit wohl hingehen moͤchte, ehe ſein Sohn wie- der nach Pelew zuruͤckkehrte? Als der Capitain erwiederte, es koͤnnten wohl dreyßig bis ſechs und dreyßig Monden verfließen; ſo zog Abba-Thulle eine Schnur aus ſeinem Handkorb, machte dreyßig Knoten, und nach einem langen Zwi- ſchenraum noch ſechs, um ſeiner vaͤterlichen Sehn- ſucht die Erleichterung zu verſchaffen, zu ſehen, daß der Zeitpunkt des Wiederſehens mit jedem aufgeloͤſten Knoten naͤher ruͤcke. Li-Bu war, wie ſein Vater, ein Muſter der Menſchenliebe und des Edelmuths. Er liebte den Capitain, dem er anvertraut war, wie ſeinen Vater, und nannte die Gattin deſſelben nie an- ders, als Mutter. Den Sohn ſeines Pflege- vaters, einen liebenswuͤrdigen Juͤngling, umfaßte er mit der zaͤrtlichen Freundſchaft. Einſt hatte der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/212
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/212>, abgerufen am 23.04.2024.