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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

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das Böse an sich nie lieben; die Tugend, als sol-
che, nie hassen und verabscheuen.

Jeder kann sich diese Behauptungen aus sei-
ner eignen Erfahrung beweisen; mir ist noch
übrig den Grund dieser Neigung zum Guten zu
entwickeln.

Es ist wohl kein Mensch, der nicht wenig-
stens einigemal für das Gute thätig gewesen wä-
re; und die hohe Freude und Zufriedenheit, die
der Tugend folgt, nicht empfunden hätte. Wenn
wir nun also sicher voraussetzen können, daß je-
der die Glückseligkeit kennt, welche mit der Tugend
verknüpft ist; so können wir auch eben so sicher
annehmen, daß jeder der Tugend selbst geneigt
ist, und gewiß ihre Zwecke jedem Andern so lan-
ge vorzieht, bis er, durch irgend eine Ursache
vom Wege der Natur abgeführt, die Gegenstän-
de der gereizten Begierde für wünschenswürdiger
hält, als die Güter, die ihm die Tugend verheißt.
Wahrlich! der Mensch müßte sehr roh oder un-
empfindlich seyn, den die Sicherheit, die Ru-
he, das Selbstgefühl, der edle Stolz, den die
Tugend giebt, nicht rühren und mit Liebe gegen

sie
re, il est peu de ces ames cadavereuses, deve-
nues insensibles, hors leur interet, a tout ce
qui est juste & bon. L'iniquite ne plait, qu'au-
tant qu'on en profite, dans tout le reste [o]n
veut que l'innocent soit protege.

das Boͤſe an ſich nie lieben; die Tugend, als ſol-
che, nie haſſen und verabſcheuen.

Jeder kann ſich dieſe Behauptungen aus ſei-
ner eignen Erfahrung beweiſen; mir iſt noch
uͤbrig den Grund dieſer Neigung zum Guten zu
entwickeln.

Es iſt wohl kein Menſch, der nicht wenig-
ſtens einigemal fuͤr das Gute thaͤtig geweſen waͤ-
re; und die hohe Freude und Zufriedenheit, die
der Tugend folgt, nicht empfunden haͤtte. Wenn
wir nun alſo ſicher vorausſetzen koͤnnen, daß je-
der die Gluͤckſeligkeit kennt, welche mit der Tugend
verknuͤpft iſt; ſo koͤnnen wir auch eben ſo ſicher
annehmen, daß jeder der Tugend ſelbſt geneigt
iſt, und gewiß ihre Zwecke jedem Andern ſo lan-
ge vorzieht, bis er, durch irgend eine Urſache
vom Wege der Natur abgefuͤhrt, die Gegenſtaͤn-
de der gereizten Begierde fuͤr wuͤnſchenswuͤrdiger
haͤlt, als die Guͤter, die ihm die Tugend verheißt.
Wahrlich! der Menſch muͤßte ſehr roh oder un-
empfindlich ſeyn, den die Sicherheit, die Ru-
he, das Selbſtgefuͤhl, der edle Stolz, den die
Tugend giebt, nicht ruͤhren und mit Liebe gegen

ſie
re, il eſt peu de ces ames cadavéreuſes, deve-
nues inſenſibles, hors leur intérêt, à tout ce
qui eſt juſte & bon. L'iniquité ne plait, qu'au-
tant qu'on en profite, dans tout le reſte [o]n
veut que l'innocent ſoit protégé.
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[490/0206] das Boͤſe an ſich nie lieben; die Tugend, als ſol- che, nie haſſen und verabſcheuen. Jeder kann ſich dieſe Behauptungen aus ſei- ner eignen Erfahrung beweiſen; mir iſt noch uͤbrig den Grund dieſer Neigung zum Guten zu entwickeln. Es iſt wohl kein Menſch, der nicht wenig- ſtens einigemal fuͤr das Gute thaͤtig geweſen waͤ- re; und die hohe Freude und Zufriedenheit, die der Tugend folgt, nicht empfunden haͤtte. Wenn wir nun alſo ſicher vorausſetzen koͤnnen, daß je- der die Gluͤckſeligkeit kennt, welche mit der Tugend verknuͤpft iſt; ſo koͤnnen wir auch eben ſo ſicher annehmen, daß jeder der Tugend ſelbſt geneigt iſt, und gewiß ihre Zwecke jedem Andern ſo lan- ge vorzieht, bis er, durch irgend eine Urſache vom Wege der Natur abgefuͤhrt, die Gegenſtaͤn- de der gereizten Begierde fuͤr wuͤnſchenswuͤrdiger haͤlt, als die Guͤter, die ihm die Tugend verheißt. Wahrlich! der Menſch muͤßte ſehr roh oder un- empfindlich ſeyn, den die Sicherheit, die Ru- he, das Selbſtgefuͤhl, der edle Stolz, den die Tugend giebt, nicht ruͤhren und mit Liebe gegen ſie *) *) re, il eſt peu de ces ames cadavéreuſes, deve- nues inſenſibles, hors leur intérêt, à tout ce qui eſt juſte & bon. L'iniquité ne plait, qu'au- tant qu'on en profite, dans tout le reſte on veut que l'innocent ſoit protégé.

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/206>, abgerufen am 19.04.2024.