Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Bis ins Jnnerste seines ganzen Seyns ward
Werther erschüttert, als er seiner Lotte diese
Stelle aus Oßians Gesange las*):

"Warum weckst du mich Frühlingsluft?
Du buhlst und sprichst:
Jch bethaue mit Tropfen des Himmels! --
Aber die Zeit meines Welkens ist nahe,
Nahe der Sturm, der meine Blätter herabstößt!
Morgen wird der Wandrer kommen,
Kommen, der mich sah in meiner Schönheit,
Ringsum wird sein Auge im Felde mich suchen,
Und wird mich nicht finden.

Er fühlte in diesen Worten seinen ganzen Zu-
stand geschildert. Der Entschluß zum nahen
Tod war gefaßt; darum schlug er die Hofnung,
doch noch vielleicht glücklich werden zu können,
nieder, mit dem Gedanken: bald bist du nicht
mehr.

Alle Gefühle sind entweder Gefühle der Lust
oder der Unlust.

Mit Lust wird das Herz afficirt, wenn das,
wodurch das Gefühl bewegt wird, mit der Natur
des Subjekts harmonirt; mit Unlust, wenn das
Gegentheil statt findet.

Weil nun die Natur der Menschen, das
heißt, ihre körperliche und geistige Beschaffenheit,

so
*) Göthe's Schriften. 1. Theil.

Bis ins Jnnerſte ſeines ganzen Seyns ward
Werther erſchuͤttert, als er ſeiner Lotte dieſe
Stelle aus Oßians Geſange las*):

„Warum weckſt du mich Fruͤhlingsluft?
Du buhlſt und ſprichſt:
Jch bethaue mit Tropfen des Himmels! —
Aber die Zeit meines Welkens iſt nahe,
Nahe der Sturm, der meine Blaͤtter herabſtoͤßt!
Morgen wird der Wandrer kommen,
Kommen, der mich ſah in meiner Schoͤnheit,
Ringsum wird ſein Auge im Felde mich ſuchen,
Und wird mich nicht finden.

Er fuͤhlte in dieſen Worten ſeinen ganzen Zu-
ſtand geſchildert. Der Entſchluß zum nahen
Tod war gefaßt; darum ſchlug er die Hofnung,
doch noch vielleicht gluͤcklich werden zu koͤnnen,
nieder, mit dem Gedanken: bald biſt du nicht
mehr.

Alle Gefuͤhle ſind entweder Gefuͤhle der Luſt
oder der Unluſt.

Mit Luſt wird das Herz afficirt, wenn das,
wodurch das Gefuͤhl bewegt wird, mit der Natur
des Subjekts harmonirt; mit Unluſt, wenn das
Gegentheil ſtatt findet.

Weil nun die Natur der Menſchen, das
heißt, ihre koͤrperliche und geiſtige Beſchaffenheit,

ſo
*) Goͤthe's Schriften. 1. Theil.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0019" n="303"/>
        <p>Bis ins Jnner&#x017F;te &#x017F;eines ganzen Seyns ward<lb/><hi rendition="#b">Werther</hi> er&#x017F;chu&#x0364;ttert, als er &#x017F;einer <hi rendition="#b">Lotte</hi> die&#x017F;e<lb/>
Stelle aus <hi rendition="#b">Oßians</hi> Ge&#x017F;ange las<note place="foot" n="*)">Go&#x0364;the's Schriften. 1. Theil.</note>:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x201E;Warum weck&#x017F;t du mich Fru&#x0364;hlingsluft?</l><lb/>
          <l>Du buhl&#x017F;t und &#x017F;prich&#x017F;t:</l><lb/>
          <l>Jch bethaue mit Tropfen des Himmels! &#x2014;</l><lb/>
          <l>Aber die Zeit meines Welkens i&#x017F;t nahe,</l><lb/>
          <l>Nahe der Sturm, der meine Bla&#x0364;tter herab&#x017F;to&#x0364;ßt!</l><lb/>
          <l>Morgen wird der Wandrer kommen,</l><lb/>
          <l>Kommen, der mich &#x017F;ah in meiner Scho&#x0364;nheit,</l><lb/>
          <l>Ringsum wird &#x017F;ein Auge im Felde mich &#x017F;uchen,</l><lb/>
          <l>Und wird mich nicht finden.</l>
        </lg><lb/>
        <p>Er fu&#x0364;hlte in die&#x017F;en Worten &#x017F;einen ganzen Zu-<lb/>
&#x017F;tand ge&#x017F;childert. Der Ent&#x017F;chluß zum nahen<lb/>
Tod war gefaßt; darum &#x017F;chlug er die Hofnung,<lb/>
doch noch vielleicht glu&#x0364;cklich werden zu ko&#x0364;nnen,<lb/>
nieder, mit dem Gedanken: bald bi&#x017F;t du nicht<lb/>
mehr.</p><lb/>
        <p>Alle Gefu&#x0364;hle &#x017F;ind entweder Gefu&#x0364;hle der <hi rendition="#b">Lu&#x017F;t</hi><lb/>
oder der <hi rendition="#b">Unlu&#x017F;t</hi>.</p><lb/>
        <p>Mit Lu&#x017F;t wird das Herz afficirt, wenn das,<lb/>
wodurch das Gefu&#x0364;hl bewegt wird, mit der Natur<lb/>
des Subjekts harmonirt; mit Unlu&#x017F;t, wenn das<lb/>
Gegentheil &#x017F;tatt findet.</p><lb/>
        <p>Weil nun die Natur der Men&#x017F;chen, das<lb/>
heißt, ihre ko&#x0364;rperliche und gei&#x017F;tige Be&#x017F;chaffenheit,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;o</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[303/0019] Bis ins Jnnerſte ſeines ganzen Seyns ward Werther erſchuͤttert, als er ſeiner Lotte dieſe Stelle aus Oßians Geſange las *): „Warum weckſt du mich Fruͤhlingsluft? Du buhlſt und ſprichſt: Jch bethaue mit Tropfen des Himmels! — Aber die Zeit meines Welkens iſt nahe, Nahe der Sturm, der meine Blaͤtter herabſtoͤßt! Morgen wird der Wandrer kommen, Kommen, der mich ſah in meiner Schoͤnheit, Ringsum wird ſein Auge im Felde mich ſuchen, Und wird mich nicht finden. Er fuͤhlte in dieſen Worten ſeinen ganzen Zu- ſtand geſchildert. Der Entſchluß zum nahen Tod war gefaßt; darum ſchlug er die Hofnung, doch noch vielleicht gluͤcklich werden zu koͤnnen, nieder, mit dem Gedanken: bald biſt du nicht mehr. Alle Gefuͤhle ſind entweder Gefuͤhle der Luſt oder der Unluſt. Mit Luſt wird das Herz afficirt, wenn das, wodurch das Gefuͤhl bewegt wird, mit der Natur des Subjekts harmonirt; mit Unluſt, wenn das Gegentheil ſtatt findet. Weil nun die Natur der Menſchen, das heißt, ihre koͤrperliche und geiſtige Beſchaffenheit, ſo *) Goͤthe's Schriften. 1. Theil.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/19
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/19>, abgerufen am 28.03.2024.