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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

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sey, diese Menschen zu tödten, als sie in Ver-
nunftlosigkeit leben zu lassen!

Dicht drengte ich mich an meinen Freund,
und ging so dicht an ihn gedrengt mit der übrigen
Gesellschaft in einen andern Gang. Hier waren
meist Frauenzimmer, auch die meisten Stübchen
zugemacht, und die Gitter mit Vorhängen ver-
hangen. Doch waren zween davon offen, in
welche uns der Zuchtmeister führte.

Jn dem einen fanden wir ein Frauenzimmer,
langer und hagrer Gestalt, etwas über vierzig
Jahr alt. Sie saß am Tische auf einem Lehn-
stuhl. Sie war schon sechs und zwanzig Jahr
hier, und die Liebe zu einem Officier, dem sie ih-
re Hand zu geben von ihren Eltern verhindert
ward, die Ursache ihrer Verrücktheit. Sie rede-
te unaufhörlich vor sich, machte seltsame Bewe-
gungen mit den Fingern und Händen, kehrte
uns meistentheils den Rücken zu, und machte
nur dem Zuchtmeister eine Verbeugung. Es
mußte ihr sehr angst und enge ums Herz seyn.
Ach! vielleicht ängstet sie noch itzt nach dreyßig
Jahren die Härte ihrer Eltern! Doch -- wer
kann diese anklagen, da die Umstände nicht be-
kannt genug sind? Nach der Aussage des Zucht-
meisters ist diese Person öfters in seiner Stube,
arbeitet sehr ordentlich, und bekommt nur selten
einen starken Paroxismus. Sie erhält auf An-

ord-

ſey, dieſe Menſchen zu toͤdten, als ſie in Ver-
nunftloſigkeit leben zu laſſen!

Dicht drengte ich mich an meinen Freund,
und ging ſo dicht an ihn gedrengt mit der uͤbrigen
Geſellſchaft in einen andern Gang. Hier waren
meiſt Frauenzimmer, auch die meiſten Stuͤbchen
zugemacht, und die Gitter mit Vorhaͤngen ver-
hangen. Doch waren zween davon offen, in
welche uns der Zuchtmeiſter fuͤhrte.

Jn dem einen fanden wir ein Frauenzimmer,
langer und hagrer Geſtalt, etwas uͤber vierzig
Jahr alt. Sie ſaß am Tiſche auf einem Lehn-
ſtuhl. Sie war ſchon ſechs und zwanzig Jahr
hier, und die Liebe zu einem Officier, dem ſie ih-
re Hand zu geben von ihren Eltern verhindert
ward, die Urſache ihrer Verruͤcktheit. Sie rede-
te unaufhoͤrlich vor ſich, machte ſeltſame Bewe-
gungen mit den Fingern und Haͤnden, kehrte
uns meiſtentheils den Ruͤcken zu, und machte
nur dem Zuchtmeiſter eine Verbeugung. Es
mußte ihr ſehr angſt und enge ums Herz ſeyn.
Ach! vielleicht aͤngſtet ſie noch itzt nach dreyßig
Jahren die Haͤrte ihrer Eltern! Doch — wer
kann dieſe anklagen, da die Umſtaͤnde nicht be-
kannt genug ſind? Nach der Auſſage des Zucht-
meiſters iſt dieſe Perſon oͤfters in ſeiner Stube,
arbeitet ſehr ordentlich, und bekommt nur ſelten
einen ſtarken Paroxiſmus. Sie erhaͤlt auf An-

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[221/0245] ſey, dieſe Menſchen zu toͤdten, als ſie in Ver- nunftloſigkeit leben zu laſſen! Dicht drengte ich mich an meinen Freund, und ging ſo dicht an ihn gedrengt mit der uͤbrigen Geſellſchaft in einen andern Gang. Hier waren meiſt Frauenzimmer, auch die meiſten Stuͤbchen zugemacht, und die Gitter mit Vorhaͤngen ver- hangen. Doch waren zween davon offen, in welche uns der Zuchtmeiſter fuͤhrte. Jn dem einen fanden wir ein Frauenzimmer, langer und hagrer Geſtalt, etwas uͤber vierzig Jahr alt. Sie ſaß am Tiſche auf einem Lehn- ſtuhl. Sie war ſchon ſechs und zwanzig Jahr hier, und die Liebe zu einem Officier, dem ſie ih- re Hand zu geben von ihren Eltern verhindert ward, die Urſache ihrer Verruͤcktheit. Sie rede- te unaufhoͤrlich vor ſich, machte ſeltſame Bewe- gungen mit den Fingern und Haͤnden, kehrte uns meiſtentheils den Ruͤcken zu, und machte nur dem Zuchtmeiſter eine Verbeugung. Es mußte ihr ſehr angſt und enge ums Herz ſeyn. Ach! vielleicht aͤngſtet ſie noch itzt nach dreyßig Jahren die Haͤrte ihrer Eltern! Doch — wer kann dieſe anklagen, da die Umſtaͤnde nicht be- kannt genug ſind? Nach der Auſſage des Zucht- meiſters iſt dieſe Perſon oͤfters in ſeiner Stube, arbeitet ſehr ordentlich, und bekommt nur ſelten einen ſtarken Paroxiſmus. Sie erhaͤlt auf An- ord-

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/245>, abgerufen am 25.04.2024.