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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

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diesen Umstand nicht aus der Acht gelassen. Lear
denkt an Kordelia mit Erkenntniß seines Unrechts
und Reue, wenn er es gleich nur in seltnen Wor-
ten äußert*); denn der Gedanke war zu peini-
gend für ihn, als daß er ihn oft und lange deut-
lich
hätte denken können.

Der Narr des Königs begleitet ihn auf sei-
nem Wege zu Regan. Auch diesen braucht der
Dichter vortreflich, die Raserey des Königs vor-
zubereiten und zu beschleunigen. Er macht durch
seine Reden die Hofnung des Vaters auf seine
zweyte Tochter wankend, und wirft ihm sein un-
kluges Verfahren vor: und wie stark dies auf den
König wirkt, äußert er selbst, indem er sagt:

"O laß mich nicht wahnwitzig werden, nicht
wahnwitzig, gütiger Himmel! Erhalte mich bey
gelaßnem Muth; wahnwitzig wäre ich nicht
gern."
**)

Lear sendet seinen treuen Kent, der in ver-
stellter Kleidung zu seinem Dienst sich bey ihm ein-
gefunden hat, an Regan voraus. Er selbst folgt
nach. Er findet seine Tochter nicht zu Hause,
und sein Bote ist nicht zurückgekommen. Schon

dies
*) 1. Aufz. 4. Auftr. "O sehr kleines Vergehen, wie
häßlich erschienst du an Kordelia etc."
und 5. Auftr.
"Jch that ihr Unrecht."
**) 1. Aufz. 5. Auftr.
N 3


dieſen Umſtand nicht aus der Acht gelaſſen. Lear
denkt an Kordelia mit Erkenntniß ſeines Unrechts
und Reue, wenn er es gleich nur in ſeltnen Wor-
ten aͤußert*); denn der Gedanke war zu peini-
gend fuͤr ihn, als daß er ihn oft und lange deut-
lich
haͤtte denken koͤnnen.

Der Narr des Koͤnigs begleitet ihn auf ſei-
nem Wege zu Regan. Auch dieſen braucht der
Dichter vortreflich, die Raſerey des Koͤnigs vor-
zubereiten und zu beſchleunigen. Er macht durch
ſeine Reden die Hofnung des Vaters auf ſeine
zweyte Tochter wankend, und wirft ihm ſein un-
kluges Verfahren vor: und wie ſtark dies auf den
Koͤnig wirkt, aͤußert er ſelbſt, indem er ſagt:

„O laß mich nicht wahnwitzig werden, nicht
wahnwitzig, guͤtiger Himmel! Erhalte mich bey
gelaßnem Muth; wahnwitzig waͤre ich nicht
gern.„
**)

Lear ſendet ſeinen treuen Kent, der in ver-
ſtellter Kleidung zu ſeinem Dienſt ſich bey ihm ein-
gefunden hat, an Regan voraus. Er ſelbſt folgt
nach. Er findet ſeine Tochter nicht zu Hauſe,
und ſein Bote iſt nicht zuruͤckgekommen. Schon

dies
*) 1. Aufz. 4. Auftr. „O ſehr kleines Vergehen, wie
haͤßlich erſchienſt du an Kordelia ꝛc.„
und 5. Auftr.
„Jch that ihr Unrecht.„
**) 1. Aufz. 5. Auftr.
N 3
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[197/0221] dieſen Umſtand nicht aus der Acht gelaſſen. Lear denkt an Kordelia mit Erkenntniß ſeines Unrechts und Reue, wenn er es gleich nur in ſeltnen Wor- ten aͤußert *); denn der Gedanke war zu peini- gend fuͤr ihn, als daß er ihn oft und lange deut- lich haͤtte denken koͤnnen. Der Narr des Koͤnigs begleitet ihn auf ſei- nem Wege zu Regan. Auch dieſen braucht der Dichter vortreflich, die Raſerey des Koͤnigs vor- zubereiten und zu beſchleunigen. Er macht durch ſeine Reden die Hofnung des Vaters auf ſeine zweyte Tochter wankend, und wirft ihm ſein un- kluges Verfahren vor: und wie ſtark dies auf den Koͤnig wirkt, aͤußert er ſelbſt, indem er ſagt: „O laß mich nicht wahnwitzig werden, nicht wahnwitzig, guͤtiger Himmel! Erhalte mich bey gelaßnem Muth; wahnwitzig waͤre ich nicht gern.„ **) Lear ſendet ſeinen treuen Kent, der in ver- ſtellter Kleidung zu ſeinem Dienſt ſich bey ihm ein- gefunden hat, an Regan voraus. Er ſelbſt folgt nach. Er findet ſeine Tochter nicht zu Hauſe, und ſein Bote iſt nicht zuruͤckgekommen. Schon dies *) 1. Aufz. 4. Auftr. „O ſehr kleines Vergehen, wie haͤßlich erſchienſt du an Kordelia ꝛc.„ und 5. Auftr. „Jch that ihr Unrecht.„ **) 1. Aufz. 5. Auftr. N 3

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/221>, abgerufen am 28.03.2024.