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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

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sie ihre Pflicht gegen den Vater nie vergessen
werde. Der Alte, durch diese Aufrichtigkeit bis
zur Wuth entflammt, weil er von der jüngsten
Tochter, die er am stärksten liebte, auch die stärk-
sten wörtlichen Versicherungen der Liebe erwartete,
verstößt diese, und theilt sein Reich unter jene.
Sein treuer Diener, Kent, will ihn besänftigen,
sein Unrecht gegen seine jüngste Tochter Kordelia
ihm zeigen, für die Wahrheit und Stärke ihrer
Liebe bürgen; aber umsonst: auch er bekam zum
Lohn Fluch und Verstoßung. Der unglückliche
König, welcher bey der Theilung seines Reichs
unter seine beyden ältesten Töchter, Gonerill und
Regan, es sich ausbedungen hatte, wechselswei-
se bey ihnen seinen Aufenthalt mit hundert Rittern
zu nehmen, erfährt bald, daß die Liebe seiner
erstgebohrnen Gonerill Heucheley war. Sie run-
zelt sehr bald ihre Stirn gegen ihren Vater, und
läßt es ihn empfinden, daß er seine Vaterrechte
an eine unnatürliche Tochter verkauft hat. Sie
eröfnet ihm ihr Verlangen sein Gefolge zu vermin-
dern, und Leute zu seinen Diensten nach ihrem
Willen zu nehmen. Dies ist der erste Schlag
an das gekränkte und getäuschte Vaterherz; man
sieht in den Flüchen des Vaters, wie die Erschüt-
terungen desselben sich bis zu seiner Vernunft
fortpflanzen.

"Höre
N 2

ſie ihre Pflicht gegen den Vater nie vergeſſen
werde. Der Alte, durch dieſe Aufrichtigkeit bis
zur Wuth entflammt, weil er von der juͤngſten
Tochter, die er am ſtaͤrkſten liebte, auch die ſtaͤrk-
ſten woͤrtlichen Verſicherungen der Liebe erwartete,
verſtoͤßt dieſe, und theilt ſein Reich unter jene.
Sein treuer Diener, Kent, will ihn beſaͤnftigen,
ſein Unrecht gegen ſeine juͤngſte Tochter Kordelia
ihm zeigen, fuͤr die Wahrheit und Staͤrke ihrer
Liebe buͤrgen; aber umſonſt: auch er bekam zum
Lohn Fluch und Verſtoßung. Der ungluͤckliche
Koͤnig, welcher bey der Theilung ſeines Reichs
unter ſeine beyden aͤlteſten Toͤchter, Gonerill und
Regan, es ſich ausbedungen hatte, wechſelswei-
ſe bey ihnen ſeinen Aufenthalt mit hundert Rittern
zu nehmen, erfaͤhrt bald, daß die Liebe ſeiner
erſtgebohrnen Gonerill Heucheley war. Sie run-
zelt ſehr bald ihre Stirn gegen ihren Vater, und
laͤßt es ihn empfinden, daß er ſeine Vaterrechte
an eine unnatuͤrliche Tochter verkauft hat. Sie
eroͤfnet ihm ihr Verlangen ſein Gefolge zu vermin-
dern, und Leute zu ſeinen Dienſten nach ihrem
Willen zu nehmen. Dies iſt der erſte Schlag
an das gekraͤnkte und getaͤuſchte Vaterherz; man
ſieht in den Fluͤchen des Vaters, wie die Erſchuͤt-
terungen deſſelben ſich bis zu ſeiner Vernunft
fortpflanzen.

„Hoͤre
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[195/0219] ſie ihre Pflicht gegen den Vater nie vergeſſen werde. Der Alte, durch dieſe Aufrichtigkeit bis zur Wuth entflammt, weil er von der juͤngſten Tochter, die er am ſtaͤrkſten liebte, auch die ſtaͤrk- ſten woͤrtlichen Verſicherungen der Liebe erwartete, verſtoͤßt dieſe, und theilt ſein Reich unter jene. Sein treuer Diener, Kent, will ihn beſaͤnftigen, ſein Unrecht gegen ſeine juͤngſte Tochter Kordelia ihm zeigen, fuͤr die Wahrheit und Staͤrke ihrer Liebe buͤrgen; aber umſonſt: auch er bekam zum Lohn Fluch und Verſtoßung. Der ungluͤckliche Koͤnig, welcher bey der Theilung ſeines Reichs unter ſeine beyden aͤlteſten Toͤchter, Gonerill und Regan, es ſich ausbedungen hatte, wechſelswei- ſe bey ihnen ſeinen Aufenthalt mit hundert Rittern zu nehmen, erfaͤhrt bald, daß die Liebe ſeiner erſtgebohrnen Gonerill Heucheley war. Sie run- zelt ſehr bald ihre Stirn gegen ihren Vater, und laͤßt es ihn empfinden, daß er ſeine Vaterrechte an eine unnatuͤrliche Tochter verkauft hat. Sie eroͤfnet ihm ihr Verlangen ſein Gefolge zu vermin- dern, und Leute zu ſeinen Dienſten nach ihrem Willen zu nehmen. Dies iſt der erſte Schlag an das gekraͤnkte und getaͤuſchte Vaterherz; man ſieht in den Fluͤchen des Vaters, wie die Erſchuͤt- terungen deſſelben ſich bis zu ſeiner Vernunft fortpflanzen. „Hoͤre N 2

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/219>, abgerufen am 24.04.2024.