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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

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Zwölfte Unterhaltung.
Ueber
die Raserey des Königs Lear in Shake-
spears Trauerspiel: Leben und Tod des
Königs Lear.

Shakespear hat in seinem Trauerspiel, Leben
und Tod des Königs Lear
, die Raserey des
Königs so natürlich vorbereitet, und so wahr ge-
schildert, daß dieses Stück als ein sehr fruchtba-
rer Beytrag zur Geschichte des Wahnsinns und
Wahnwitzes angesehen werden kann. Jch glaube
daher, daß meine Leser und Leserinnen eine Ent-
wickelung der hieher gehörigen Scenen, hier
nicht überflüßig finden werden.

Lear ist ein alter Mann, von heftigen Affek-
ten, mit dem Eigenthum des hohen Alters, der
Wunderlichkeit und Empfindlichkeit, ausgestattet.
Er will sein Reich unter seine Töchter vertheilen,
um der Regierung Last und Sorge überhoben zu
seyn. Das Verdienst, so nennt er ihre Liebe,
die sie gegen ihn in Worten äußern, soll den
Antheil einer jeden bestimmen. Die beyden älte-
sten heucheln eine unvergleichbare Liebe: die jüng-
ste, "deren Liebe reicher ist als ihre Zunge", versi-
chert mit Aufrichtigkeit, ohne Uebertreibung, daß

sie
Zwoͤlfte Unterhaltung.
Ueber
die Raſerey des Koͤnigs Lear in Shake-
ſpears Trauerſpiel: Leben und Tod des
Koͤnigs Lear.

Shakeſpear hat in ſeinem Trauerſpiel, Leben
und Tod des Koͤnigs Lear
, die Raſerey des
Koͤnigs ſo natuͤrlich vorbereitet, und ſo wahr ge-
ſchildert, daß dieſes Stuͤck als ein ſehr fruchtba-
rer Beytrag zur Geſchichte des Wahnſinns und
Wahnwitzes angeſehen werden kann. Jch glaube
daher, daß meine Leſer und Leſerinnen eine Ent-
wickelung der hieher gehoͤrigen Scenen, hier
nicht uͤberfluͤßig finden werden.

Lear iſt ein alter Mann, von heftigen Affek-
ten, mit dem Eigenthum des hohen Alters, der
Wunderlichkeit und Empfindlichkeit, ausgeſtattet.
Er will ſein Reich unter ſeine Toͤchter vertheilen,
um der Regierung Laſt und Sorge uͤberhoben zu
ſeyn. Das Verdienſt, ſo nennt er ihre Liebe,
die ſie gegen ihn in Worten aͤußern, ſoll den
Antheil einer jeden beſtimmen. Die beyden aͤlte-
ſten heucheln eine unvergleichbare Liebe: die juͤng-
ſte, „deren Liebe reicher iſt als ihre Zunge„, verſi-
chert mit Aufrichtigkeit, ohne Uebertreibung, daß

ſie
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[194/0218] Zwoͤlfte Unterhaltung. Ueber die Raſerey des Koͤnigs Lear in Shake- ſpears Trauerſpiel: Leben und Tod des Koͤnigs Lear. Shakeſpear hat in ſeinem Trauerſpiel, Leben und Tod des Koͤnigs Lear, die Raſerey des Koͤnigs ſo natuͤrlich vorbereitet, und ſo wahr ge- ſchildert, daß dieſes Stuͤck als ein ſehr fruchtba- rer Beytrag zur Geſchichte des Wahnſinns und Wahnwitzes angeſehen werden kann. Jch glaube daher, daß meine Leſer und Leſerinnen eine Ent- wickelung der hieher gehoͤrigen Scenen, hier nicht uͤberfluͤßig finden werden. Lear iſt ein alter Mann, von heftigen Affek- ten, mit dem Eigenthum des hohen Alters, der Wunderlichkeit und Empfindlichkeit, ausgeſtattet. Er will ſein Reich unter ſeine Toͤchter vertheilen, um der Regierung Laſt und Sorge uͤberhoben zu ſeyn. Das Verdienſt, ſo nennt er ihre Liebe, die ſie gegen ihn in Worten aͤußern, ſoll den Antheil einer jeden beſtimmen. Die beyden aͤlte- ſten heucheln eine unvergleichbare Liebe: die juͤng- ſte, „deren Liebe reicher iſt als ihre Zunge„, verſi- chert mit Aufrichtigkeit, ohne Uebertreibung, daß ſie

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/218>, abgerufen am 29.03.2024.