Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Zuweilen scheint sogar der Wahnwitz dem
Verstande derer, welche an ihm erkrankt sind,
einen starken Schwung und einen höhern Grad
von Vollkommenheit zu geben, als er im gesun-
den Zustande hatte: ein deutlicher Beweis von
der unmäßigen Anstrengung und unwiderstehlichen
Gewalt, mit welcher die Seele ohne ihren Wil-
len fortgerissen und angespannt wird. Ein Pre-
diger predigte im Wahnwitz in Versen, und ein
Bauer hielt pathetische Reden an die um ihn her
Versammleten.

Daß aber die Verrücktheit solche Kenntnisse
inspirire, welche vernünftige Menschen nicht an-
ders, als durch Erlernung erhalten können: daß
zum Beyspiel der Wahnwitzige mit fremden Zun-
gen reden, nie von ihm erlernte Wissenschaften
vortragen könne, ist eine Fabel, so viel Erfah-
rungen man auch zum Beweis der Wahrheit zu
haben meynt. Alle Erzählungen, aus welchen
dieses behauptet werden soll, sind entweder aus
unrichtigen Beobachtungen entsprungen, oder der
Verrückte hat wirklich einmal, ohne daß er sich
selbst, wenn er auch wieder zu Verstande kam,
vielleicht daran erinnern konnte, dasjenige gehört
oder gelesen, wovon man glaubt, daß es ihm
nichts anders, als der Wahnwitz, eingegeben
habe.

Eilfte
M 2

Zuweilen ſcheint ſogar der Wahnwitz dem
Verſtande derer, welche an ihm erkrankt ſind,
einen ſtarken Schwung und einen hoͤhern Grad
von Vollkommenheit zu geben, als er im geſun-
den Zuſtande hatte: ein deutlicher Beweis von
der unmaͤßigen Anſtrengung und unwiderſtehlichen
Gewalt, mit welcher die Seele ohne ihren Wil-
len fortgeriſſen und angeſpannt wird. Ein Pre-
diger predigte im Wahnwitz in Verſen, und ein
Bauer hielt pathetiſche Reden an die um ihn her
Verſammleten.

Daß aber die Verruͤcktheit ſolche Kenntniſſe
inſpirire, welche vernuͤnftige Menſchen nicht an-
ders, als durch Erlernung erhalten koͤnnen: daß
zum Beyſpiel der Wahnwitzige mit fremden Zun-
gen reden, nie von ihm erlernte Wiſſenſchaften
vortragen koͤnne, iſt eine Fabel, ſo viel Erfah-
rungen man auch zum Beweis der Wahrheit zu
haben meynt. Alle Erzaͤhlungen, aus welchen
dieſes behauptet werden ſoll, ſind entweder aus
unrichtigen Beobachtungen entſprungen, oder der
Verruͤckte hat wirklich einmal, ohne daß er ſich
ſelbſt, wenn er auch wieder zu Verſtande kam,
vielleicht daran erinnern konnte, dasjenige gehoͤrt
oder geleſen, wovon man glaubt, daß es ihm
nichts anders, als der Wahnwitz, eingegeben
habe.

Eilfte
M 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0203" n="179"/>
          <p>Zuweilen &#x017F;cheint &#x017F;ogar der Wahnwitz dem<lb/>
Ver&#x017F;tande derer, welche an ihm erkrankt &#x017F;ind,<lb/>
einen &#x017F;tarken Schwung und einen ho&#x0364;hern Grad<lb/>
von Vollkommenheit zu geben, als er im ge&#x017F;un-<lb/>
den Zu&#x017F;tande hatte: ein deutlicher Beweis von<lb/>
der unma&#x0364;ßigen An&#x017F;trengung und unwider&#x017F;tehlichen<lb/>
Gewalt, mit welcher die Seele ohne ihren Wil-<lb/>
len fortgeri&#x017F;&#x017F;en und ange&#x017F;pannt wird. Ein Pre-<lb/>
diger predigte im Wahnwitz in Ver&#x017F;en, und ein<lb/>
Bauer hielt patheti&#x017F;che Reden an die um ihn her<lb/>
Ver&#x017F;ammleten.</p><lb/>
          <p>Daß aber die Verru&#x0364;cktheit &#x017F;olche Kenntni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
in&#x017F;pirire, welche vernu&#x0364;nftige Men&#x017F;chen nicht an-<lb/>
ders, als durch Erlernung erhalten ko&#x0364;nnen: daß<lb/>
zum Bey&#x017F;piel der Wahnwitzige mit fremden Zun-<lb/>
gen reden, nie von ihm erlernte Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften<lb/>
vortragen ko&#x0364;nne, i&#x017F;t eine Fabel, &#x017F;o viel Erfah-<lb/>
rungen man auch zum Beweis der Wahrheit zu<lb/>
haben meynt. Alle Erza&#x0364;hlungen, aus welchen<lb/>
die&#x017F;es behauptet werden &#x017F;oll, &#x017F;ind entweder aus<lb/>
unrichtigen Beobachtungen ent&#x017F;prungen, oder der<lb/>
Verru&#x0364;ckte hat wirklich einmal, ohne daß er &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, wenn er auch wieder zu Ver&#x017F;tande kam,<lb/>
vielleicht daran erinnern konnte, dasjenige geho&#x0364;rt<lb/>
oder gele&#x017F;en, wovon man glaubt, daß es ihm<lb/>
nichts anders, als der Wahnwitz, eingegeben<lb/>
habe.</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">M 2</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">Eilfte</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[179/0203] Zuweilen ſcheint ſogar der Wahnwitz dem Verſtande derer, welche an ihm erkrankt ſind, einen ſtarken Schwung und einen hoͤhern Grad von Vollkommenheit zu geben, als er im geſun- den Zuſtande hatte: ein deutlicher Beweis von der unmaͤßigen Anſtrengung und unwiderſtehlichen Gewalt, mit welcher die Seele ohne ihren Wil- len fortgeriſſen und angeſpannt wird. Ein Pre- diger predigte im Wahnwitz in Verſen, und ein Bauer hielt pathetiſche Reden an die um ihn her Verſammleten. Daß aber die Verruͤcktheit ſolche Kenntniſſe inſpirire, welche vernuͤnftige Menſchen nicht an- ders, als durch Erlernung erhalten koͤnnen: daß zum Beyſpiel der Wahnwitzige mit fremden Zun- gen reden, nie von ihm erlernte Wiſſenſchaften vortragen koͤnne, iſt eine Fabel, ſo viel Erfah- rungen man auch zum Beweis der Wahrheit zu haben meynt. Alle Erzaͤhlungen, aus welchen dieſes behauptet werden ſoll, ſind entweder aus unrichtigen Beobachtungen entſprungen, oder der Verruͤckte hat wirklich einmal, ohne daß er ſich ſelbſt, wenn er auch wieder zu Verſtande kam, vielleicht daran erinnern konnte, dasjenige gehoͤrt oder geleſen, wovon man glaubt, daß es ihm nichts anders, als der Wahnwitz, eingegeben habe. Eilfte M 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/203
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/203>, abgerufen am 18.04.2024.