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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

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diesem treffenden Mahler außerordentlicher Zu-
stände der Seele, Hamlet von sich sagt: --

"Jch habe seit einiger Zeit -- warum, weiß
ich selbst nicht, alle meine Munterkeit verloren,
alle meine gewöhnlichen Leibesübungen vergessen;
und wirklich, es ist mit meiner Schwermuth so
weit gekommen, daß dieser herrliche Bau, die
Erde, mir ein kahles Vorgebirge scheint. Jener
prächtige Thronhimmel, die Luft, jenes schöne
über uns hängende Firmament dort, dieses ma-
jestätische, mit goldenem Feuer ausgelegte Dach,
kömmt mir nicht anders vor, als wie ein häßli-
cher und ansteckender Sammelplatz böser Dünste.
Welch ein Meisterstück ist der Mensch! wie edel
durch die Vernunft! Wie unbegränzt in seinen
Fähigkeiten! An Gestalt und Bewegung, wie
vollendet und bewundernswerth! An Thätigkeit
gleich einem Engel! Jm Denken ähnlich einem
Gott! Die Schönheit der Welt! Das Voll-
kommenste aller sichtbaren Wesen! Und doch,
was ist in meinen Augen diese Quintessenz des
Staubes? Der Mann gefällt mir nicht -- und
das Weib eben so wenig."

Aus den Papieren der ascetischen Gesellschaft
in Zürch vom März und April 1777 führt Herr
Meister*) folgende Erzählung eines Mitgliedes
dieser Gesellschaft an: Jch traf, erzählt derselbe,

ein
*) Ueber die Schwärmerey. 2. 60 f.

dieſem treffenden Mahler außerordentlicher Zu-
ſtaͤnde der Seele, Hamlet von ſich ſagt: —

„Jch habe ſeit einiger Zeit — warum, weiß
ich ſelbſt nicht, alle meine Munterkeit verloren,
alle meine gewoͤhnlichen Leibesuͤbungen vergeſſen;
und wirklich, es iſt mit meiner Schwermuth ſo
weit gekommen, daß dieſer herrliche Bau, die
Erde, mir ein kahles Vorgebirge ſcheint. Jener
praͤchtige Thronhimmel, die Luft, jenes ſchoͤne
uͤber uns haͤngende Firmament dort, dieſes ma-
jeſtaͤtiſche, mit goldenem Feuer ausgelegte Dach,
koͤmmt mir nicht anders vor, als wie ein haͤßli-
cher und anſteckender Sammelplatz boͤſer Duͤnſte.
Welch ein Meiſterſtuͤck iſt der Menſch! wie edel
durch die Vernunft! Wie unbegraͤnzt in ſeinen
Faͤhigkeiten! An Geſtalt und Bewegung, wie
vollendet und bewundernswerth! An Thaͤtigkeit
gleich einem Engel! Jm Denken aͤhnlich einem
Gott! Die Schoͤnheit der Welt! Das Voll-
kommenſte aller ſichtbaren Weſen! Und doch,
was iſt in meinen Augen dieſe Quinteſſenz des
Staubes? Der Mann gefaͤllt mir nicht — und
das Weib eben ſo wenig.„

Aus den Papieren der aſcetiſchen Geſellſchaft
in Zuͤrch vom Maͤrz und April 1777 fuͤhrt Herr
Meiſter*) folgende Erzaͤhlung eines Mitgliedes
dieſer Geſellſchaft an: Jch traf, erzaͤhlt derſelbe,

ein
*) Ueber die Schwaͤrmerey. 2. 60 f.
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[171/0195] dieſem treffenden Mahler außerordentlicher Zu- ſtaͤnde der Seele, Hamlet von ſich ſagt: — „Jch habe ſeit einiger Zeit — warum, weiß ich ſelbſt nicht, alle meine Munterkeit verloren, alle meine gewoͤhnlichen Leibesuͤbungen vergeſſen; und wirklich, es iſt mit meiner Schwermuth ſo weit gekommen, daß dieſer herrliche Bau, die Erde, mir ein kahles Vorgebirge ſcheint. Jener praͤchtige Thronhimmel, die Luft, jenes ſchoͤne uͤber uns haͤngende Firmament dort, dieſes ma- jeſtaͤtiſche, mit goldenem Feuer ausgelegte Dach, koͤmmt mir nicht anders vor, als wie ein haͤßli- cher und anſteckender Sammelplatz boͤſer Duͤnſte. Welch ein Meiſterſtuͤck iſt der Menſch! wie edel durch die Vernunft! Wie unbegraͤnzt in ſeinen Faͤhigkeiten! An Geſtalt und Bewegung, wie vollendet und bewundernswerth! An Thaͤtigkeit gleich einem Engel! Jm Denken aͤhnlich einem Gott! Die Schoͤnheit der Welt! Das Voll- kommenſte aller ſichtbaren Weſen! Und doch, was iſt in meinen Augen dieſe Quinteſſenz des Staubes? Der Mann gefaͤllt mir nicht — und das Weib eben ſo wenig.„ Aus den Papieren der aſcetiſchen Geſellſchaft in Zuͤrch vom Maͤrz und April 1777 fuͤhrt Herr Meiſter *) folgende Erzaͤhlung eines Mitgliedes dieſer Geſellſchaft an: Jch traf, erzaͤhlt derſelbe, ein *) Ueber die Schwaͤrmerey. 2. 60 f.

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/195>, abgerufen am 29.03.2024.