Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite


sie nicht, und was nicht ist, empfinden sie. Kei-
ne Spur von Verstand -- nehmt ihnen die Men-
schengestalt, und sie sind den Thieren ganz gleich.
Keine Vorstellungen, keine Beweise können den
Unsinnigen von dem Ungrunde seines Unsinns über-
zeugen; denn, ach! er kann dieselben nicht fassen,
nicht einsehen.

Es glaubte jemand, erzählt Marcellus Do-
natus, einen so großen Leib zu haben, daß er
nicht durch die Thür seiner Schlafkammer kom-
men könne. Er war daher durch nichts zu be-
wegen, aus dieser nicht kleinen und engen Thür
zu gehen. Endlich befahl sein Arzt, man solle
ihn mit Gewalt herausschaffen. Dies geschah.
Allein der Wahnsinnige glaubte nun alle seine
Gliedmaßen wären zerbrochen, schalt die, welche
ihn herausgetragen hatten, seine Mörder, und
starb.

Bringt mich ja nicht dem Feuer zu nahe,
schreyt ein Unsinniger, denn ich würde schmelzen,
weil ich aus Butter geformt bin; hütet euch, ruft
ein andrer, an mich zu stoßen, denn ich würde
zerbrechen, weil ich von Glas bin.

Dem Unsinnigen fehlt sein Selbstgefühl
ganz: der Blödsinnige hat es doch zum Theil,
und wenigstens zuweilen lichte Zwischenräume.
Es giebt Zeiten, wo er wahr empfindet und ver-
nünftig redet, und nur dann, wenn er aus sei-

nen
L 4


ſie nicht, und was nicht iſt, empfinden ſie. Kei-
ne Spur von Verſtand — nehmt ihnen die Men-
ſchengeſtalt, und ſie ſind den Thieren ganz gleich.
Keine Vorſtellungen, keine Beweiſe koͤnnen den
Unſinnigen von dem Ungrunde ſeines Unſinns uͤber-
zeugen; denn, ach! er kann dieſelben nicht faſſen,
nicht einſehen.

Es glaubte jemand, erzaͤhlt Marcellus Do-
natus, einen ſo großen Leib zu haben, daß er
nicht durch die Thuͤr ſeiner Schlafkammer kom-
men koͤnne. Er war daher durch nichts zu be-
wegen, aus dieſer nicht kleinen und engen Thuͤr
zu gehen. Endlich befahl ſein Arzt, man ſolle
ihn mit Gewalt herausſchaffen. Dies geſchah.
Allein der Wahnſinnige glaubte nun alle ſeine
Gliedmaßen waͤren zerbrochen, ſchalt die, welche
ihn herausgetragen hatten, ſeine Moͤrder, und
ſtarb.

Bringt mich ja nicht dem Feuer zu nahe,
ſchreyt ein Unſinniger, denn ich wuͤrde ſchmelzen,
weil ich aus Butter geformt bin; huͤtet euch, ruft
ein andrer, an mich zu ſtoßen, denn ich wuͤrde
zerbrechen, weil ich von Glas bin.

Dem Unſinnigen fehlt ſein Selbſtgefuͤhl
ganz: der Bloͤdſinnige hat es doch zum Theil,
und wenigſtens zuweilen lichte Zwiſchenraͤume.
Es giebt Zeiten, wo er wahr empfindet und ver-
nuͤnftig redet, und nur dann, wenn er aus ſei-

nen
L 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0191" n="167"/><lb/>
&#x017F;ie nicht, und was nicht i&#x017F;t, empfinden &#x017F;ie. Kei-<lb/>
ne Spur von Ver&#x017F;tand &#x2014; nehmt ihnen die Men-<lb/>
&#x017F;chenge&#x017F;talt, und &#x017F;ie &#x017F;ind den Thieren ganz gleich.<lb/>
Keine Vor&#x017F;tellungen, keine Bewei&#x017F;e ko&#x0364;nnen den<lb/>
Un&#x017F;innigen von dem Ungrunde &#x017F;eines Un&#x017F;inns u&#x0364;ber-<lb/>
zeugen; denn, ach! er kann die&#x017F;elben nicht fa&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
nicht ein&#x017F;ehen.</p><lb/>
          <p>Es glaubte jemand, erza&#x0364;hlt Marcellus Do-<lb/>
natus, einen &#x017F;o großen Leib zu haben, daß er<lb/>
nicht durch die Thu&#x0364;r &#x017F;einer Schlafkammer kom-<lb/>
men ko&#x0364;nne. Er war daher durch nichts zu be-<lb/>
wegen, aus die&#x017F;er nicht kleinen und engen Thu&#x0364;r<lb/>
zu gehen. Endlich befahl &#x017F;ein Arzt, man &#x017F;olle<lb/>
ihn mit Gewalt heraus&#x017F;chaffen. Dies ge&#x017F;chah.<lb/>
Allein der Wahn&#x017F;innige glaubte nun alle &#x017F;eine<lb/>
Gliedmaßen wa&#x0364;ren zerbrochen, &#x017F;chalt die, welche<lb/>
ihn herausgetragen hatten, &#x017F;eine Mo&#x0364;rder, und<lb/>
&#x017F;tarb.</p><lb/>
          <p>Bringt mich ja nicht dem Feuer zu nahe,<lb/>
&#x017F;chreyt ein Un&#x017F;inniger, denn ich wu&#x0364;rde &#x017F;chmelzen,<lb/>
weil ich aus Butter geformt bin; hu&#x0364;tet euch, ruft<lb/>
ein andrer, an mich zu &#x017F;toßen, denn ich wu&#x0364;rde<lb/>
zerbrechen, weil ich von Glas bin.</p><lb/>
          <p>Dem <hi rendition="#b">Un&#x017F;innigen</hi> fehlt &#x017F;ein Selb&#x017F;tgefu&#x0364;hl<lb/>
ganz: der <hi rendition="#b">Blo&#x0364;d&#x017F;innige</hi> hat es doch zum Theil,<lb/>
und wenig&#x017F;tens zuweilen lichte Zwi&#x017F;chenra&#x0364;ume.<lb/>
Es giebt Zeiten, wo er wahr empfindet und ver-<lb/>
nu&#x0364;nftig redet, und nur dann, wenn er aus &#x017F;ei-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L 4</fw><fw place="bottom" type="catch">nen</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[167/0191] ſie nicht, und was nicht iſt, empfinden ſie. Kei- ne Spur von Verſtand — nehmt ihnen die Men- ſchengeſtalt, und ſie ſind den Thieren ganz gleich. Keine Vorſtellungen, keine Beweiſe koͤnnen den Unſinnigen von dem Ungrunde ſeines Unſinns uͤber- zeugen; denn, ach! er kann dieſelben nicht faſſen, nicht einſehen. Es glaubte jemand, erzaͤhlt Marcellus Do- natus, einen ſo großen Leib zu haben, daß er nicht durch die Thuͤr ſeiner Schlafkammer kom- men koͤnne. Er war daher durch nichts zu be- wegen, aus dieſer nicht kleinen und engen Thuͤr zu gehen. Endlich befahl ſein Arzt, man ſolle ihn mit Gewalt herausſchaffen. Dies geſchah. Allein der Wahnſinnige glaubte nun alle ſeine Gliedmaßen waͤren zerbrochen, ſchalt die, welche ihn herausgetragen hatten, ſeine Moͤrder, und ſtarb. Bringt mich ja nicht dem Feuer zu nahe, ſchreyt ein Unſinniger, denn ich wuͤrde ſchmelzen, weil ich aus Butter geformt bin; huͤtet euch, ruft ein andrer, an mich zu ſtoßen, denn ich wuͤrde zerbrechen, weil ich von Glas bin. Dem Unſinnigen fehlt ſein Selbſtgefuͤhl ganz: der Bloͤdſinnige hat es doch zum Theil, und wenigſtens zuweilen lichte Zwiſchenraͤume. Es giebt Zeiten, wo er wahr empfindet und ver- nuͤnftig redet, und nur dann, wenn er aus ſei- nen L 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/191
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/191>, abgerufen am 28.03.2024.